"Der Teufel im Arztkittel": Höchststrafe im Missbrauchs-Skandal

Demonstranten vor dem Gerich, in dem es zum Urteil gegen Joel Le Scouarnec kam
In Frankreichs bisher größtem Kinderschänder-Prozess wurde der Angeklagte, der ehemalige Arzt Joël Le Scouarnec, zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Zusammenfassung

  • Joël Le Scouarnec, ehemaliger Arzt, wurde in Frankreichs größtem Kinderschänder-Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt.
  • Er gestand sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen an 299 Minderjährigen zwischen 1989 und 2014.
  • Der Prozess deckte auch Versagen seitens der Ärztekammer und Krankenhausleitungen auf.

Joël Le Scouarnec hatte es während seines Prozesses selbst gesagt: Er erwarte nicht, jemals noch ein „freier Mann“ zu werden. Angesichts der Schwere seiner Taten sei das wohl auch richtig, so der 74-Jährige. 

So sahen es auch die Richter im bretonischen Vannes im bisher größten Kinderschänder-Prozess Frankreichs. Nach dreimonatigen Verhandlungen verurteilten sie ihn am Mittwoch wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung zur Höchststrafe von 20 Jahren Gefängnis.

Allerdings gingen sie nicht auf die Forderung von Staatsanwalt Stéphane Kellenberger nach einer zusätzlichen Sicherheitsverwahrung ein. Dieser hatte den Angeklagten bei seinem Plädoyer als „Teufel im Arztkittel“ bezeichnet. Vier Experten hatten vor der hohen Gefahr von Wiederholungstaten gewarnt, so sehr der Betroffene selbst auch versicherte, er könne „nie mehr zu dem werden, was ich war“: ein skrupelloser Kinderschänder.

Insgesamt wurden dem ehemaligen Chirurgen sexuelle Übergriffe auf und Vergewaltigungen von 299 Personen zwischen 1989 und 2014 vorgeworfen. Seine Taten beschrieb er nicht nur detailliert in seinen Tagebüchern, sondern gab sie im Laufe des Prozesses auch zu, ebenso wie weiter zurückliegende und deshalb verjährte Übergriffe.

 In den verschiedenen Krankenhäusern überwiegend in Westfrankreich, in denen er über die Jahrzehnte arbeitete, verging sich Le Scouarnec fast immer an Kindern oder Jugendlichen; das Durchschnittsalter seiner Opfer war elf Jahre. Oft befanden sie sich noch unter Betäubung oder schliefen nach einer Operation, wenn er kam, um sie zu betatschen und mit den Fingern zu vergewaltigen.

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Der Arzt behandelte seine Opfer wie leblose Objekte 

Weil der normale Gerichtssaal zu klein war, mussten angesichts der hohen Zahl von Prozessteilnehmern zusätzliche Säle umgebaut und mit Bildschirmen für die Übertragung des Geschehens ausgestattet werden. Vor Gericht trat der frühere Arzt reuevoll auf. Er habe heute „volles Bewusstsein über das Leiden der Opfer meiner Taten“. 

Viele der Nebenkläger hielten ihn für unehrlich und verspürten „sehr viel Wut gegen ihn“, sagte die Anwältin Laure Boutron-Marmion, die mehrere Betroffene vertrat. Durch seine Geständnisse habe er manchen aber die Angst vor der Aussage genommen, die nicht fürchten mussten, dass diese von der Verteidigung in Frage gestellt würden. „20 Jahre ist wenig angesichts der Zahl der Opfer“, sagte ihre Anwaltskollegin Francesca Satta sagte nach dem Urteil. „Es wird Zeit, dass die Gesetzestexte sich ändern.“

Die Betroffenen hatten den Richterspruch lange erwartet. „Ich musste das Urteil hören, um diesem Kapitel endlich ein Ende zu setzen“, sagte Cécile Mahuret. Vor acht Jahren erfuhr die 36-Jährige bei einer Vorladung in ein Polizeikommissariat, dass sie im Alter von sieben Jahren von Le Scouarnec missbraucht worden war. Dieser hatte in seinen Aufzeichnungen nicht nur seine perversen Handlungen geschildert, sondern auch Namen, Alter und Adressen seiner Opfer notiert. So konnten sie von der Polizei informiert werden. „Mir wäre es lieber gewesen, nie davon zu erfahren“, so Mahuret. Zugleich verstand sie endlich ihre krankhafte Angst vor körperlicher Nähe und vor medizinischem Personal. Den meisten Opfern fehlten konkrete Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse.

Viele von ihnen erzürnte, dass auch die regionale Ärztekammer als Zivilkläger auftrat. Dabei war sie untätig geblieben trotz Warnsignalen in Form von einer Beschwerde durch einen Kollegen und die Meldung einer ersten Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von pädokriminellem Material im Jahr 2005. 

So deckte der Prozess auch ein Versagen der zuständigen Behörden und der jeweiligen Krankenhausleitungen auf. Es war eine sechsjährige Nachbarin, ein weiteres Opfer Le Scouarnecs, durch die er schließlich aufflog. 

2020 wurde er nach ihrer Klage zu 15 Jahren Haft wegen sexueller Gewalt gegen sie und drei weitere Mädchen, darunter zwei seiner Nichten, verurteilt. 

Staatsanwalt Kellenberger schloss nicht aus, dass es in der Zukunft einen weiteren Prozess geben könnte, sollten noch mehr Opfer identifiziert werden können.