Erste britische Spielsuchtklinik: Viel mehr Andrang als gedacht

Ein Jugendlicher sitzt mit Kopfhörern vor einem Laptop.
Im Bann der Konsole: Gaming-Sucht ist seit bald vier Jahren eine anerkannte Krankheit.

Vergangenes Jahr konnte die Britin Lisa (Name von der Redaktion geändert, Anm.) nicht mehr. Ihr 14-jähriger Sohn wurde immer häufiger aggressiv, er wollte nicht mehr an gemeinsamen Mahlzeiten, am Familienleben teilnehmen. Er wollte nichts – außer spielen.

Lisa hat, so wie Hunderte Familien seit Oktober 2019, Hilfe bei Henrietta Bowden-Jones gesucht. Die Psychiaterin gründete damals das landesweit erste NHS-Zentrum für Spielstörungen. Unlängst wurde Resümee gezogen: In knapp vier Jahren wurden 745 Personen behandelt; 327 davon im vergangenen Jahr – großteils Burschen, die meisten im Alter von 17 Jahren. Der Andrang sei viel höher als erwartet. Sie hätten mit 50 Patienten im Jahr gerechnet, sagte Bowden-Jones im Guardian. Entsprechend wurden sie von der NHS gefördert.

Seit 2018 Krankheit

Die World Health Organisation (WHO) hat Spielstörungen 2018 als psychische Erkrankung anerkannt. Die drei wichtigsten Merkmale: Das Spielverhalten hat Vorrang vor anderen Aktivitäten, die Kontrolle über das Verhalten ist „gestört“ und der Zustand führt zu erheblichem Leid und Beeinträchtigungen im familiären, sozialen oder schulischen Bereich.

Bowden-Jones erzählt in britischen Medien von Situationen, in denen Jugendliche versucht hätten, sich mit ihren eigenen Händen zu würgen, und sagten, sie würden „lieber tot sein, als nicht mehr zu spielen“. Sie behandelte ein Kind, das in der Nacht im Dunkeln zum Haus der Großmutter schlich, weil es wusste, dass das Internet dort nicht abgedreht sein würde. In anderen Fällen hätten Jugendliche die Kreditkarten der Eltern gestohlen, um sie zu verspielen.

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Die Sucht beginne oft nach einer Veränderung der Lebensumstände: Ein Schul- oder Wohnungswechsel, ein Verlust von Freunden oder Familienmitgliedern. Das führe zu Verunsicherung; die Jugendlichen flüchten in die Anonymität des Internet, suchen online den Halt von Gleichaltrigen. Anfangs sei die Online-Welt vielleicht eine hilfreiche Stütze, doch bei manchen führt der Rückzug zu gefährlicher Isolation.

Vor der WHO-Anerkennung war es oft schwierig, eine Diagnose zu bekommen. Die Britin Kendal Parmar schilderte 2018 im Telegraph, dass ihr Sohn „in jedem Moment, in dem er wach“ sei, an einem Spiel teilnehmen wollte. „Es gibt keine Außenwelt. Es ist alles verzehrend geworden“, sagte sie. Als seine Funktionsfähigkeit zu stark beeinträchtigt war, wurde er für acht Wochen ins Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Entlassung bekam er Vitamin-D-Tabletten wegen des monatelangen Sonnenlicht-Mangels. Er wurde Englands erster offizieller Spielsucht-Patient.

2,6 Milliarden Euro

Die britische Regierung will bis 2024 jährlich 2,6 Milliarden Euro zusätzlich in den Ausbau der psychiatrischen Versorgung investieren.

In der NHS-Klinik werden auch Angehörige betreut. Britin Lisa besuchte einen Elternworkshop und Sitzungen mit einem Psychologen. Seitdem gehe es ihr besser: „Ich fühle mich weniger alleine. Und weil die anderen in ähnlichen Situation sind, fühle ich mich nicht verurteilt.“

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