Megatrend in Deutschland: Hunderttausende singen Weihnachtslieder in Fußballstadien

German soccer club 1. FC Union Berlin fans sing traditional Christmas carols, in Berlin
Alles begann vor 22 Jahren, heute sind Tickets für die Events nur schwer zu ergattern. Experten erklären die Ursachen des Hypes.

Einmal geht’s noch: Heute, Dienstag, einen Tag vor dem Christfest, kommen im Kölner RheinEnergie-Stadion wieder Zehntausende Männer, Frauen und Kinder zusammen, um gemeinsam Weihnachtslieder zu singen. „Loss mer Weihnachtsleeder singe“, lautet das Motto der Veranstalter auf Kölsch, zu der jährlich 44.000 Menschen in jenes Oval strömen, in dem ansonsten der 1. FC Köln Toren nachjagt.

Das „Stadionsingen“ im Advent hat sich in Deutschland mittlerweile zu einem Megatrend entwickelt. Überall im Land versammeln sich Menschen in den großen Fußballtempeln zum gemeinsamen Singen, in Summe Hunderttausende. Es gibt viel mehr Interessenten als Tickets.

In Dortmund etwa, wo die größte Veranstaltung dieser Art – auch weltweit – stets stattfindet, waren die 71.000 Eintrittskarten binnen einer Stunde weg. „Mir hat unser Stadionsprecher Norbert Dickel erzählt: Das hier ist schneller ausverkauft, als wenn Real Madrid kommt“, sagt Dieter Falk zur „FAZ“.

Geld für karitative Projekte

Falk ist der musikalische Kopf hinter dem Dortmunder gesanglichen Weihnachtsevent.  Wie seine Kollegen andernorts spannt er bei der Auswahl der Lieder den Bogen von Xmas-Pop bis Volks- oder Kirchenlied, etwa von „Let it snow“ über „Leise rieselt der Schnee“ bis zu „Es ist ein Ros entsprungen“. 90 Minuten – so lang wie eben ein Fußballspiel dauert – wird gemeinsam geträllert. Und sogar ein wirtschaftlicher Gewinn erzielt, heuer waren es 180.000 Euro, die in karitative Projekte in Dortmund flossen.

Begonnen hat das deutschlandweit nun so beliebte Stadionsingen am 23. Dezember vor 22 Jahren. Damals versammelten sich gerade einmal 89 Anhänger des Ostberliner Traditionsvereins Union Berlin  im maroden Stadion, tranken dort Glühwein und sangen Weihnachtslieder ... heute muss man schon Vereinsmitglied sein, um dabei sein zu können.

„Entstresst“

„Dieser Zuspruch und dieser Zulauf ist etwas, was anscheinend tief in uns drinnen ist“, versucht der deutsche Musikwissenschaftler Gunter Kreutz im Gespräch mit dem „NDR“ das Phänomen zu erklären. Zudem gehöre es gerade zur Weihnachtszeit „zur familiären Erfahrung, dass man gemeinsam singt“.  Und dieses „gemeinsame Singen schafft eine Annäherung“, analysiert der Experte, „man sieht sich tatsächlich menschlicher“ und fühle sich „entstresst und entspannt“.

Obwohl viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei diesen Events, die manche an Veranstaltungen der amerikanischen Mega-Churches erinnern, gar nichts mit Glauben am Hut haben, erkennt Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster, eine transzendentale Komponente: In der Adventzeit herrsche  eine Sehnsucht nach Spiritualität und Besinnlichkeit vor. Gerade in einer dunklen, kalten Zeit, in der es so „viele Probleme in der Welt, Krisen und aggressive Regierungsrepräsentanten“  gebe, komme man gerne zum Singen zusammen - gleichsam als Familie, so der Professor zu „domradio.de“.

Die große Beliebtheit der weihnachtlichen Stadion–Veranstaltungen führt er auf einen Mix von Gründen zurück: „Der Verein ist wichtig, die Stadt ist wichtig, und auch die Heimat und das Christentum sind wichtig.“

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