25 Jahre nach Kaprun: Als die Trauer Teil unserer Familie wurde

THEMENBILD:  10. JAHRESTAG DER KAPRUN-KATASTROPHE
Unser Redakteur verlor bei der Seilbahnkatastrophe am Kitzsteinhorn seinen großen Bruder. Es sind Erinnerungen, die auch 25 Jahre später noch schmerzen.

Wenn man vor dem Grab meines Bruders Niko steht, fällt der Blick sofort auf das dunkle Snowboard. Es ist ein Erinnerungsstück an sein liebstes Hobby, das seine Klassenkameraden aus schwarzem Granit anfertigen ließen, und das sich so stark abhebt vom weißen Grabstein aus Marmor. In das Snowboard ist der Satz eingraviert: „Wer ihn gekannt hat, weiß, was wir verloren haben.“

Jugendlicher sitzt vor Geburtstagskuchen mit brennenden Kerzen an festlich gedecktem Tisch.

Niko an seinem 15. Geburtstag.

Ob ich Niko wirklich gekannt habe, kann ich heute nur noch schwer sagen. Ich war erst fünf, als er aus unser aller Leben gerissen wurde. Als Fünfzehnjähriger. Niko war aufgeweckt und frech, aber er  hatte gerade erst begonnen, eigene Schritte zu gehen und seinen Charakter zu formen.

Meine Mutter weinte so heftig, dass ich verstand, was passiert war, bevor sie es aussprach

Lebhafte Erinnerungen an Niko habe ich heute keine mehr. Dafür hat sich der Tag, an dem er gemeinsam mit dem Rest seiner Snowboard-Gruppe die Seilbahn bestieg, für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.

Ich saß in unserem Wohnzimmer, im südburgenländischen Güssing, als mein Vater mich aufgelöst in den Arm nahm. Er sagte viel und doch so wenig – unzusammenhängende Versuche, einem Kleinkind das Unbegreifliche zu erklären. „Niko ist so krank, dass er nicht mehr nach Hause kommen kann“, ist ein Satz, der mir geblieben ist. 

Nur Minuten später kam meine Mutter nach Hause und weinte so heftig, dass ich endlich verstand, was passiert war, noch bevor sie es aussprach.

Nikos Tod hat tiefe Narben hinterlassen. Bei meiner Mutter, deren Haare schlagartig alle Farbe verloren. Bei meiner Schwester, die bei dem Brand nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihren damaligen Jugendschwarm verlor; die sofort alle Schulfreunde durchtelefonierte und niemanden erreichte.

Mit Kaprun hat sich ein Schleier über ganz Güssing gelegt. Unsere Familie ist nur eine von vielen, die damals am Fuße des Kitzsteinhorns zerrissen wurden.

Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die anderen aufzuheitern

All wir Verbliebenen gehen mit dem Verlust anders um. Eine meiner Schwestern reiste oft zum Unglücksort, ließ sich sogar einmal von Fachleuten durch den Tunnel führen. Eine andere Schwester bringt es bis heute nicht übers Herz, Nikos Grab zu besuchen. Ich selbst habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, Menschen, die mir nahestehen, aufzuheitern. Das habe ich erst Jahre später erkannt.

Johannes Arends Familienfoto 2000

Nur Monate vor dem Unglück: Geschwister beobachten die Sonnenfinsternis im Juli 2000.

Die Trauer ist damals Teil unserer Familie geworden. Bis heute zeigt sie sich, zu jedem Weihnachtsfest, an jedem Jahrestag und an jedem 1. November, Nikos Geburtstag. Er wäre dieses Jahr 40 geworden. 

Meistens glaube ich, dass Nikos Tod für mich, weil ich so jung war, einfacher zu ertragen ist als für den Rest der Familie. An solchen Tagen wünsche ich mir, ich hätte die Chance gehabt, ihn besser kennenzulernen.

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