Warum uns das Würfelspiel so in seinen Bann zieht

Warum uns das Würfelspiel so in seinen Bann zieht
„Der Teufel schuf das Würfelspiel“, warnten schon die mittelalterlichen Minnesänger. Und doch begeistert das kubische Spielgerät die Menschen in seiner Unberechenbarkeit seit Jahrtausenden.

Diese Erzählung beginnt ungewöhnlich. Nämlich mit ihrer potenziellen Schlusspointe. Und diese lautet wie folgt: Unter all den Geschichten und Mythen, die sich um das vielleicht beliebteste, sicher aber älteste Spielgerät der Menschheit – den Würfel – ranken, wird ausgerechnet die bekannteste historische Begebenheit völlig falsch interpretiert.

„Alea iacta est“ soll Julius Caesar ausgerufen haben, als er im Jahr 49 v. Chr. den Rubikon überschritt und so den römischen Bürgerkrieg gegen Pompeius einläutete. „Der Würfel ist gefallen“, übersetzten Generationen von Latein-Schülern. „Die Sache ist entschieden.“

Doch war es wirklich das, was Caesar meinte? Nein. Die präzise Übersetzung führt auf die richtige Spur: Der Würfel ist geworfen (worden), lautet sie.

Der Ausspruch beschreibt also vielmehr die Situation nach einer Handlung – konkret: nach dem Würfelwurf –, deren Ausgang noch ungewiss, aber nicht mehr beeinflussbar ist. Der Würfel, er ist bei Caesar eben nicht gefallen. Vielmehr fällt er noch, er befindet sich in der Luft.

Sieg und Niederlage

Warum die Anekdote bedeutsam ist? Sie führt näher an die Beantwortung der Frage heran, warum das Würfelspiel die Menschen seit Jahrtausenden in seinen Bann zieht: Sind die Würfel geworfen, ist alles möglich. Bei kaum einem anderen Spiel liegen Sieg und Niederlage so nahe beieinander, kaum eines lädt so verlockend dazu ein, das Glück herauszufordern.

Doch halt! Ist es tatsächlich bloß das Glück, das über den Fall der Würfel entscheidet? Es kann fast nicht sein. „Der Weise“, schrieb Gotthold Ephraim Lessing, „schätzt kein Spiel, wo nur der Zufall regiert.“

Und so werden von den Spielern Wahrscheinlichkeiten berechnet, Wurftechniken und kombinatorische Fähigkeiten perfektioniert, die Götter beschworen. Im Kasino, fanden Forscher heraus, werfen Menschen die Würfel möglichst kraftvoll, wenn sie eine hohe Zahl benötigen – und sanft, wenn sie eine niedrige erhoffen.

Ein klassischer Fall von Kontrollillusion. Es wäre ja gelacht, ließe sich der nächste Wurf nicht doch beeinflussen. Die Hoffnung auf den nächsten Wurf kann süchtig machen.

Wer hat’s erfunden

So kommt es auch, dass kein anderes Spiel so oft verboten wurde wie das Würfelspiel. Az-zahr nennt der Araber wertfrei den Würfel, in Europa wurde das Wort im Mittelalter zum Inbegriff des gefährlichen Zockens: Hazard hieß das berüchtigtste Würfelspiel seiner Zeit. (Den Hasardeur kennt man bis heute.)

„Der tiuvel schuof das würfelspil“, sangen damals die Minnesänger. „Der Teufel schuf das Würfelspiel.“

Doch der Reihe nach. Denn die Anfänge des Würfelspiels sind ganz und gar göttlich: Platon schrieb seine Erfindung dem ägyptischen Gott Thot zu, dem Gott der Magie und der Weisheit.

Andere sehen den Ursprung des Spiels in der griechischen Mythologie. Der Held Palamedes soll es während des Trojanischen Krieges erdacht haben. (Die Zeit hätte er gehabt. Die Belagerung Trojas soll immerhin zehn Jahre gedauert haben.)

Tatsächlich war der Würfel im Alten Ägypten früh bekannt. Erste Funde datieren auf 3500 v. Chr., mit zweiseitigen Stabwürfeln frönte man dem beliebten Spiel Senet.

Patent haben die Ägypter keines auf den Würfel, er entstand an allen Ecken und Enden der Welt. Die Inuit fertigten ihn ebenso wie nordamerikanische Indianer, die Chinesen ebenso wie afrikanische Stämme. Vielzählig waren auch die Materialien – von Sprunggelenkknochen der Ziege über Zähne bis zu Porzellan.

Ideale Gewichtsverteilung

Bald setzte sich die heutige Form durch: In seiner Standardform ist der Würfel ein Kubus, ein gleichseitiger Quader mit (so er nicht gezinkt ist) idealer Gewichtsverteilung.

Nur so ist die Gleichverteilung der Ergebnisse – mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Sechstel pro Seite – gewährleistet. (Eine Anforderung, die Spieler erst ab dem Mittelalter erhoben, wie Forscher der University of California herausfanden, als sie Hunderte historische Würfel in Museen testeten.) Sind die Seiten mit Werten von 1 bis 6 nummeriert, so stehen einander jene Zahlen gegenüber, die zusammen 7 ergeben.

Die Gleichverteilung der Wahrscheinlichkeiten ist es, die das Würfelspiel so attraktiv macht – sie insinuiert Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit, wiegt in Sicherheit, verführt.

Ein Beispiel: Ein Würfel wurde fünf Mal geworfen, noch nie hat sich die 6 gezeigt. Dann muss sie endlich erscheinen, oder? Nein. Auch wenn sich nach 1.000 Würfen noch keine 6 zeigte, lässt sich keine Vorhersage treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die 6 auftaucht, beträgt unverändert ein Sechstel.

Wer Gegenteiliges glaubt, unterliegt dem sogenannten Spielerfehlschluss. Jeder Wurf ist ein unabhängiges Einzelereignis. Und bei einem solchen „gibt es keine ausgleichende Kraft des Schicksals“, wie es der Philosoph und Schriftsteller Rolf Dobelli im Buch „Die Kunst des klaren Denkens“ formuliert.

Viele Verbote

Den Glückspieler, den Hasardeur kann das freilich nicht beeindrucken. Und so kam es, dass schon im Alten Rom das Spiel um Einsätze verboten war. (Ziemlich erfolglos.) Im mittelalterlichen Mailand hatte unerlaubtes Würfeln die Verbannung aus der Stadt zur Folge, im Frankreich von Ludwig IX. predigte die Kirche gegen das Laster an. Im England des 19. Jahrhunderts gab es in den Spielsälen menschliche Würfelschlucker. Rückte die Polizei an, mussten die Armen alle Würfel hinunterschlucken.

Doch auch die Machthaber selbst spielen mit Würfeln ihr grausames Spiel. Bei den Frankenburger Würfelspielen mussten 1.625 aufständische Bauern in Oberösterreich gegeneinander um ihr Leben würfeln.

Bis ins 17. Jahrhundert mussten Juden vielerorts den Würfelzoll leisten. Wer passieren wollte, hatte dem Zöllner Würfel zu übergeben. Sie waren weitgehend wertlos. Eine antijüdische Schikane.

Unberechenbarkeit

Die Ehrenrettung des Würfels kommt spät, aber doch: In der Moderne ist er als fixer Bestandteil harmloser Gesellschaftsspiele nicht wegzudenken. Seine Unberechenbarkeit ist ihm geblieben. Und auch wenn man ein gutes Ergebnis hat, sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen.

Einst – so erzählt der französisch-norwegische Mathematiker Ivar Ekeland eine Sage – würfelten zwei Könige das Schicksal einer Insel aus. Beim ersten König zeigten die Würfel zwei Sechsen. Das sei unschlagbar, brüstete er sich. Der andere König ließ sich nicht beirren: „Es sind immer noch zwei Sechsen auf den Würfeln, und für Gott, meinen Herrn, ist es eine Kleinigkeit, sie nach oben zu bringen.“ Er ließ die Würfel fallen. Der eine zeigte eine Sechs. Der andere brach in der Mitte entzwei – und zeigte eine Sieben.

Erst dann waren die Würfel wirklich gefallen.

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