Vergewaltigungen: Blaue Flecken reichen nicht

Eine Frau mit einem Barcode-Tattoo mit dem Wort „SLAVE“ auf ihrer Schulter.
Täglich lesen wir Meldungen über sexuelle Gewalt. Doch was sagt die Statistik und wo liegen die großen Problemfelder?

Liest man sich die Schlagzeilen der letzten Monate durch, so entsteht leicht der Anschein, Vergewaltigungen würden hierzulande massiv zunehmen. Es vergeht kaum ein Tag ohne einer Meldung in den Medien. Das österreichische Bundeskriminalamt (BK) erhebt jährlich einen Bericht, der unter anderem auch Auskunft über die tatsächlichen Anzeigen und Tatverdächtigen zu sexueller Gewalt gibt. Demnach ist die Anzahl der Anzeigen von 2014 auf 2015 gesunken.

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„Die Datenlage ist aber nicht sicher“, ein Satz, der einem oft entgegnet wird, fordert man derartiges Zahlenmaterial an. Einerseits sei die wohl sehr hohe Dunkelziffer zu beachten, zweitens gelange nicht jede sexuelle Straftat zur Anzeige. Auch die Annahme, dass vermehrt sexuelle Straftaten durch Flüchtlinge begangen werden, ist - nach den Zahlen des Bundeskriminalamtes - nicht haltbar.

Stärkere Wahrnehmung

Ursula Kussyk ist diplomierte Sozialarbeiterin und seit 1991 bei der österreichischen Frauenberatung tätig. Eine Anlaufstelle für Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Eine Aussage darüber zu treffen, ob die Vergewaltigungen hierzulande nun mehr oder weniger werden, findet Kussyk unseriös, dazu möchte sie keine Einschätzung abgeben. Dass sexuelle Übergriffe vermehrt Aufmerksamkeit bekommen, mehr im öffentlichen Blick stehen, sei aber nicht von der Hand zu weisen. „Sie werden auf jeden Fall stärker wahrgenommen“, sagt die Sozialarbeiterin. Früher, vor 20 Jahren, hätte sie öfter den Eindruck gehabt, dass die kritische Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt eher in bildungsnahen Gesellschaftskreisen stattgefunden hat, bei Frauenbewegungen oder anderen politisch engagierten Gruppierungen. Heute werde das Thema viel breiter diskutiert.

Am häufigsten haben Kussyk und ihr Team es mit sexuellen Übergriffen im Bekannten- und Freundeskreis und jenen durch Fremdtäter zu tun. Wenn es sich um Familienangehörige handelt, werde meist von Übergriffen durch einen Verwandten, wie den Schwager oder einen Onkel berichtet. „Sexuelle Gewalt in der Partnerschaft ist nach wie vor ein Tabu und wird kaum thematisiert. Wenn, dann erzählen Frauen nach einer sexuellen Gewalterfahrung, dass sie Probleme haben, ihrem Partner nahezubringen, dass sie entweder gar keinen Sex oder bestimmte Praktiken nicht ertragen. Etliche zweifeln, ob das ihrem Partner zumutbar ist und wollen möglichst schnell wieder vollständig funktionieren“, sagt Kussyk.

Asylwerber und alte Österreicher

Die Frauenberatungseinrichtung sieht sich mit komplett unterschiedlichen Tätern konfrontiert. „Je sexistischer – und das kann sowohl abwertend, als auch idealisierend sein - eine Gesellschaft ist, desto mehr sexuelle Übergriffe finden statt. Solche Einstellungen finden sich bei Asylwerbern ebenso wie bei seit Generationen in Österreich befindlichen Menschen“, sagt Kussyk. Dennoch sieht sie die Problematik der patriarchalen Kulturen und der Unterschiede zu unserem Verständnis von Sexualität. Sexismus gehöre auch zu unserer Kultur, wobei wir in Österreich eine de facto Gleichberechtigung hätten und die Geschlechterarrangements im Gegensatz zu vorhergehenden Generationen wesentlich brüchiger geworden sind und mehr Freiheiten erlauben. „Sexuelle Übergriffe als Massenphänomen sind sicher eine neue Herausforderung für unsere Gesellschaft“, sagt Kussyk.

Mädchen wissen es nicht

Kussyk und ihr Team besuchen im Rahmen ihrer Tätigkeit auch Schulen und informieren vor Ort zum Thema. Im Rahmen der unterschiedlichen Workshops mit den Teenagern konfrontiert Kussyk die jungen Mädchen mit einem Gedankenexperiment: „Stellen wir uns eine gute Paarbeziehung vor. Wenn der Partner mehr als zwei Wochen beruflich verreisen musste, zurückkehrt und dann Sex möchte, sollte die Partnerin ihm dann seinen Wunsch erfüllen, auch wenn sie gar keine Lust hat?“

Egal, ob Hauptschule, Neue Mittelschule oder Gymnasium, die Antworten seien immer recht ähnlich aufgeteilt: Ein Teil der Mädchen sagt, nur dann, wenn die Frau es auch möchte. Ein Teil weiß nicht, was richtig ist und „manchmal sogar mehr als die Hälfte der Mädchen findet, dass die Frau mit ihrem Mann Sex haben sollte, weil sich das so gehört – obwohl sie es gar nicht möchte“.

Unzufrieden mit der Strafverfolgung

Nach Kussyks Meinung liege ein sehr großes Problem der Vergewaltigungsthematik darin, dass im Regelfall nach einer Anzeige nichts geschehe. Sie zeigt sich mit der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden unzufrieden. Während die Polizei durchaus engagiert vorgehe, sei bei den Anklagebehörden, die seit der StPO-Reform 2008 das Ermittlungsverfahren leiten, oft eine gewisse "Unwilligkeit" feststellbar, beklagt auch die Rechtsanwältin Barbara Steiner. Ist bei Anzeigen gegen die sexuelle Integrität keine glasklare Beweislage gegeben, werde die Glaubwürdigkeit der Opfer grundsätzlich infrage gestellt. Dann sei die Justiz oftmals nicht bereit, "indirekte Zeugen zu befragen, im Umfeld zu ermitteln und so die Puzzle-Teile zusammenzutragen, die für eine Gesamtbeurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlich sind, wenn Aussage gegen Aussage steht. Es ist oft kein Interesse da, sich eingehender damit auseinanderzusetzen".

Die Chancen, dass eine angezeigte Vergewaltigung oder geschlechtliche Nötigung zu einer Anklage führt und damit bei Gericht landet, stehen gut, wenn sichtbare Verletzungen zurückbleiben. "Es muss Blut fließen. Blaue Flecken reichen nicht. Es muss mehr sein", sagt Kussyk.

Verfahren werden eingestellt

Bei von sexueller Gewalt betroffenen Frauen handle es sich oft um Personen, die bis dahin noch keinen Kontakt mit Polizei und Gerichten hatten. Umso wichtiger sei für sie, dass sie korrekt behandelt werden, gibt die juristische Prozessbegleiterin Iris Dullnig zu bedenken: "Wenn am Ende das Verfahren eingestellt wird, ist das okay, sofern ein ordentliches Ermittlungsverfahren geführt worden ist." Oft würden die Staatsanwaltschaften aber bei Zweifeln an der Täterschaft gleich einstellen und damit die gerichtliche Beweiswürdigung vorwegnehmen, wozu sie gesetzlich nicht ermächtigt sind, merkt Anwältin Steiner an: "Es ist nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Zweifelsgrundsatz anzuwenden. Das obliegt ausschließlich den Gerichten."

Eine weitere Praxis bei den Anklagebehörden stößt den Expertinnen ebenfalls sauer auf. Obwohl die Beweissituation bei Sexual-Delikten schwierig sei, würden Verfahren immer wieder mit kurzen, formelhaften Sätzen und ohne ausführliche Begründung eingestellt, ohne dass der Verdächtige mit den gesamten Beweisergebnissen konfrontiert wird. "Für jemanden, der sexuelle Gewalt erlebt und angezeigt hat, ist es essenziell, zumindest eine ordentliche Begründung zu bekommen, wenn die Anzeige zurückgelegt wird", meint Steiner.

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