Nach Wiener Macheten-Mord: Am Tatort wird wieder gedealt
Eine Stunde am Mittwochvormittag reicht, um zu verstehen, warum die Wiener U6-Station Jägerstraße als „Drogenhotspot“ gilt. Wer für einige U-Bahn-Intervalle unterirdisch zwischen den Ausgängen hin und her spaziert, dem fallen sie rasch auf: Junge Männer mit Jogginghosen, Kapuzenpullis und Sportschuhen, die mit gesenktem Kopf auf ihre Handys starren. Kaum merkbar lassen sie dabei immer wieder den Blick schweifen.
In die zu dieser Zeit recht leere U6 steigen sie nicht ein. Ein Zug nach dem anderen fährt vorbei. Die Männer warten auf Kunden, die Rauschgift bei ihnen kaufen. Für die Menschen, die in dem Grätzel in der Brigittenau wohnen, ist das nichts Neues. „Die Szene ist entlang der U6 zwischen den Haltestellen Jägerstraße und Michelbeuern sichtbar vertreten“, weiß Wolfgang Preiszler, Chef der Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Straßenkriminalität (EGS) der Wiener Polizei.
Gewalteskalation
Sichtbar ist dort seit Kurzem auch die unfassbare Brutalität, die im Wiener Drogenmilieu Einzug erhalten hat. Vor rund zwei Wochen verstümmelten vor besagter U6-Station bis zu zehn Angreifer einen 31-jährigen Algerier mit einer Machete. Der junge Mann verblutete. Die Polizei, die bisher einen Verdächtigen festnehmen konnte, geht von einem Drogenhintergrund bei Opfer und Tätern aus. Einige Verdächtiger sollen extra aus Frankreich angereist sein.
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„Diese Art von Gewalteskalation im Milieu ist neu. Da hat eine Gruppe einen Mann fixiert und versucht, ihn mit einer Machete zu zerstückeln. Das ist eine drakonische Art der Bestrafung“, zeigt sich selbst der erfahrene Ermittler Daniel Lichtenegger, Leiter der Suchtmittelkriminalität im Bundeskriminalamt (BK), fassungslos. Ihm zufolge ist die Bluttat Teil einer Veränderung im Drogenhandel, die sich seit Längerem abzeichnet.
Bis kurz vor der Pandemie war der Straßenhandel überwiegend in westafrikanischer, speziell nigerianischer, Hand. Mit den Lockdowns kam dieser „Geschäftszweig“ fast vollständig zum Erliegen. Von 2020 auf 2021 ging der Handel im öffentlichen Raum um 40 Prozent zurück.
- 2.100 Kilogramm Cannabis, 72 kg Heroin, 81 kg Kokain, 53.000 Stück Ecstasy, 83,5 kg Amphetamin und 10,5 kg Methamphetamin wurden 2021 von der Polizei in Österreich sichergestellt
- 34.837Anzeigen nach dem Suchtmittelgesetz gab es 2021 in Österreich. Wohl auch bedingt durch die Pandemie ist das deutlich weniger als in den Jahren zuvor. Besonders der Straßenhandel ging massiv zurück (minus 40 Prozent)
Mit den gelockerten Covid-Maßnahmen kamen die Dealer jedoch zurück – allerdings nicht dieselben. Der Markt wurde der Polizei zufolge in den vergangenen Jahren weitestgehend von Gruppierungen vom Westbalkan und aus nordafrikanischen Staaten übernommen.
Das zeigt sich auch beim KURIER-Lokalaugenschein in der Jägerstraße. Die früher vorherrschenden Westafrikaner mussten ihr Revier teils abgeben. Zwei Wochen nach dem Macheten-Mord lungern dort Männer anderer Herkunft herum und verhalten sich dabei auffällig unauffällig.
Damit ist es schlagartig vorbei, als ein Käufer aus einem U-Bahn-Waggon steigt. Er ist offensichtlich erwartet worden. Denn ein zuvor noch herumstehender Mann mit ins Gesicht gezogener Kapuze folgt ihm sofort Richtung Rolltreppe. Oben angekommen, ist ein Bankomat – wenige Schritte von jener Stelle entfernt, an der in der Nacht auf den 20. April die Bluttat stattgefunden hat.
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Marktübernahme
Nach einer Bargeldbehebung gehen die Männer wieder in die U6-Station. Jetzt nah nebeneinander. Fast berühren sich ihre Hände. Als sie von einigen Menschen umgeben sind, trennen sich ihre Wege auf einmal. Einer kehrt auf seinen angestammten Platz in der Mitte der Station zurück, der andere verlässt den Untergrund schnellen Schrittes. Die letzten Stiegen nimmt er im Laufschritt, dann ist er weg.
Mit der Marktübernahme geht laut Polizei neben einer Professionalisierung auch eine neue Gewaltbereitschaft einher. Speziell die Akteure aus Ex-Jugoslawien arbeiten extrem organisiert. „Sie bieten ein besseres Produkt zu ähnlichen Preisen an“, erklärt EGS-Chef Preiszler. Gleichzeitig hört man aus Ermittlerkreisen, dass die hochgradig mafiösen Gruppierungen, die ihre Wurzeln unter anderem in Serbien und Montenegro haben, äußerst skrupellos sind.
Ähnlich ist das laut Kriminalist Lichtenegger bei Tätern aus Nordafrika und Afghanistan. Diese arbeiten unter anderem für Balkan-Organisationen als Läufer. Außerdem versuchen sie zunehmend, ohne Mittelmänner zu agieren. „Anders als die Nigerianer, die eher davongerannt sind und unbewaffnet waren, haben viele dieser Dealer ein Messer“, erläutert der BK-Mann. Die Einsätze seien aus Polizeisicht gefährlicher geworden. Dennoch halte man mit uniformierten Kräften und zivilen Drogenfahndern dagegen.
Revierkämpfe
Revierkämpfe hält Lichtenegger künftig trotzdem für denkbar und verweist auf Schweden, wo kriminelle Banden in der jüngeren Vergangenheit immer wieder für blutige Zusammenstöße gesorgt haben. „Spätestens dann betrifft die Drogenkriminalität die Allgemeinheit“, betont er.
Schon jetzt betroffen fühlen sich Anrainer in der Jägerstraße. Eine davon die 27-jährige Carina: „Meine Mitbewohnerin sieht von ihrem Fenster zur U-Bahn. Sie hat den Mann nach dem Macheten-Angriff am Boden liegen sehen. Im März ist ein paar Meter weiter eine Frau vergewaltigt worden. Wir überlegen ernsthaft, hier wegzuziehen.“
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