Die Entführung des Walter Michael Palmers

Ein eleganter älterer Herr startet seinen VW Golf, um von einem Geschäftstermin, den er in Baden hatte, nach Wien zu fahren. Man schreibt den 9. November 1977, es ist knapp vor 20 Uhr.
Der elegante Herr hat eben noch seine Frau angerufen und ihr mitgeteilt, dass er etwas verspätet zum Abendessen nach Hause kommen würde. Eine halbe Stunde danach parkt er sich schräg vis-à-vis seiner Villa in der Währinger Hockegasse ein.
Maskierte Täter
Was jetzt folgt, erzählt einen der spektakulärsten Kriminalfälle der Zweiten Republik: die Entführung des 74-jährigen Textilindustriellen Walter Michael Palmers, der an diesem Abend nicht nach Hause kommen sollte. Denn als er seinen Wagen vor der Villa zusperren will, fallen vier maskierte Täter über ihn her. „Ich wollte noch um Hilfe rufen“, wird Kommerzialrat Palmers später als Zeuge vor Gericht aussagen, „aber da haben sie mir schon den Mund zugehalten“.
Nun fährt ein heller Peugeot vor, in den der „Strumpfkönig“ gestoßen wird. Dann fahren die bewaffneten Täter mit Walter Michael Palmers im Auto Richtung Innenstadt.
Die Geiselnehmer sind Angehörige der linksterroristischen deutschen „Bewegung 2. Juni“, zu der mehrere Hintermänner zählen, die in Berlin sitzen, weiters eine deutsche Terroristin und drei österreichische Studenten. Ihr Ziel ist es, die Familie Palmers zur Zahlung einer hohen Lösegeldsumme zu erpressen.
Die Tat ist perfekt vorbereitet. Die Entführer fahren mit Palmers in die Webgasse 42 in Wien-Mariahilf, wo sie ihr Opfer in eine unter falschem Namen gemietete Drei-Zimmer-Wohnung sperren. Es folgen vier Tage und Nächte quälender Ungewissheit für den herzkranken Industriellen. Denn Geiselnahmen waren in den 1970er-Jahren eine von Kriminellen und Terroristen bevorzugte Geldquelle. 1971 war die Entführung von Hans Bensdorp, dem Sohn des bekannten Wiener Schokoladefabrikanten, unblutig ausgegangen – ganz im Gegensatz zur Entführung des deutschen Industriellensohnes Richard Oetker, der 1976 von seinen Peinigern so schwer verletzt wurde, dass er heute noch gehbehindert ist. Ermordet durch Angehörige der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) wurde im Oktober 1977 der deutsche Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Der Seniorchef der Firma Palmers musste also mit dem Schlimmsten rechnen.

„Ihr seid’s ja narrisch“
Palmers wird in der Mietwohnung in einen 1,30 x 2,30 m engen Verschlag gesteckt, in dem sich ein Campingbett, ein kleiner Tisch und ein Kübel für die Notdurft befinden. Die Täter haben im Auto ihres prominenten Opfers einen Zettel mit ihrer Lösegeldforderung hinterlegt. Sie verlangen 50 Millionen Schilling (heute etwa sechs Millionen Euro).
Als Walter Michael Palmers von seinen Entführern die Summe mitgeteilt wird, reagiert er mit den Worten: „Das ist doch eine Narretei, ihr seid’s ja narrisch“, seine Firma könne höchstens fünf Millionen Schilling aufbringen.
Und doch zeigt sich Palmers, wie er in der Gerichtsverhandlung aussagen wird, relativ gelassen: „Ich hab mir gedacht, wenn’s aus ist, ist’s halt aus.“ Freilich stellt er sich auf eine längere Gefangenschaft ein, schon weil ihm die Täter ein frisches Hemd geben und eine neue Unterhose – „von der Konkurrenz“, was Palmers besonders ärgert. Man überlässt ihm ein paar Bücher und einen Fernsehapparat, zu Essen gibt’s Naturschnitzel mit Salzkartoffeln.
Die Familie Palmers einigt sich indes mit den Entführern auf eine Lösegeldzahlung in Höhe von 32 Millionen Schilling, die unter Ausschaltung der Polizei übergeben werden soll. Nachdem es dem 33-jährigen Palmers-Finanzvorstand Rudolf Humer gelang, bei mehreren Banken den hohen Geldbetrag zu beschaffen, führt Christian Palmers, der Sohn des Entführten, in einem als Taxi getarnten Pkw die Geldübergabe an einen der Terroristen durch. Sie findet in der Domgasse nahe des Stephansdoms statt. Gleichzeitig wird Palmers senior nach viertägiger Geiselhaft freigelassen.
Die Täter konnten ausgeforscht und in der Schweiz, in Italien und in Wien verhaftet werden. Sie wurden zu Gefängnisstrafen zwischen fünfeinhalb und 14 Jahren verurteilt, der Großteil des Lösegeldes ist nie aufgetaucht und soll die „Rote Armee Fraktion“ noch lange finanziert haben.
„Höfliche Entführer“
Trotz der lebensbedrohlichen Umstände, in denen sich Walter Michael Palmers befand, kannte er auch nach seiner Freilassung keine Rachegefühle: „Ich bin besonders nett behandelt worden“, sagte er vor Gericht, „das waren gebildete Menschen, ich würde sogar sagen, die Entführer waren überaus höflich.“
Der damalige Palmers-Direktor Rudolf Humer ist heute noch überzeugt davon, „dass die Beschaffung und Übergabe des Lösegeldes der einzig richtige Weg waren, da einige der Entführer, wie sich später herausstellen sollte, derselben terroristischen Organisation angehörten wie jene, die den deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer ermordet haben. Dass Herr Palmers vor Gericht erklärte, die Entführer hätten ihn freundlich behandelt, zeigt einmal mehr seinen noblen Charakter.“
Zu spät zum Nachtmahl
Walter Michael Palmers, der seit 1937 Geschäftsführer des von seinem Vater im Jahr 1914 gegründeten Textilunternehmens war, hatte die Firmenleitung nach Hitlers Einmarsch an ein nichtjüdisches Mitglied der Familie abgeben müssen, ehe er sie mit dem Ende der Nazi-Herrschaft wieder übernahm. Nach seiner Entführung zog er sich sukzessive aus der Geschäftsführung zurück. Er starb 1983 im Alter von 80 Jahren.
Während Palmers in dieser Zeit mit mehr als 90 Filialen und 1.500 Mitarbeitern das größte Textilunternehmen des Landes war, droht heute die Insolvenz. Doch mit der Familie Palmers hat die Firma nichts mehr zu tun, sie hat ihre Anteile längst verkauft.
Seinen Humor hat Walter Michael Palmers auch in der Geiselhaft nicht verloren. Als er nach seiner Freilassung in einem Taxi heimkam, begrüßte er seine Frau mit den Worten: „Tut mir leid, ich habe mich zum Nachtmahl um 100 Stunden verspätet.“
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