Anschlag auf Autos der Zeugen Jehovas in Leibnitz: Es waren Rohrbomben
Noch bis Sonntag feiern Tausende Zeugen Jehovas ihren jährlichen Sommerkongress im Wiener Happel-Stadion. Nach drei Jahren wieder zum ersten Mal.
Doch die Freude überschatten erhöhte Sicherheitsmaßnahmen und die Suche nach einem noch unbekannten Täter.
Denn in Leibnitz in der Steiermark entging die Glaubensgemeinschaft offenbar nur knapp einem geplanten Anschlag. Dabei soll ein Unbekannter offenbar zwei Autos von Mitgliedern der Zeugen Jehovas ins Visier genommen haben. Wie die Polizei am Samstag mitteilte.
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Der KURIER hat weitere Details zu den Sprengsätzen, den Hintergründen und was den Anschlag vereitelte.
Denn laut Polizeiinsidern soll es sich bei den Sprengsätzen nicht um einen Scherz, oder Hobby-Sprengmittel, sondern eindeutig um Rohrbomben handeln. Zwei "gut gebaute" Rohrbomben, wie es aus Ermittlerkreisen heißt.
Welche fatalen Auswirkungen diese haben hätten können, ist unvorstellbar. Offenbar dürfte nur ein Fehlkonstruktion zwischen Zünder und Sprengstoff die Katastrophe verhindert haben.
Das Auto einer Frau detonierte noch auf dem Parkplatz vor dem Königreichssaal der Zeugen Jehovas.
Lauter Knall während Gebetsstunde
"Die Anwesenden der Gebetsstunde haben einen lauten Knall gehört, diesen aber nicht mit einer Explosion in Zusammenhang gebracht", erzählt Markus Lamb, Sprecher der Landespolizeidirektion Steiermark. Als das Gebet zu Ende war, verließen die Mitglieder den Saal.
Was dann passierte, ist laut derzeitigem Ermittlungsstand folgendes: Ein Mann setzte sich völlig unbedarft in sein Auto und fuhr los. "Nach wenigen Kilometern ist dann auch der Sprengsatz unter seinem Pkw detoniert", erzählt Lamb. Zum Glück wurden weder der Mann, noch die Frau verletzt.
Die Zeugen Jehovas
sind in Österreich eine staatlich anerkannte Kirche. Nach über 30 Jahren Einsatz hatte das zuständige Kultusamt im Mai 2009 der damals fünftgrößten Glaubensgemeinschaft in Österreich grünes Licht für den Status als Religionsgemeinschaft gegeben. Dem vorausgegangen war ein entsprechender Spruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
22.000 Mitglieder
Nach eigenen Angaben haben die Zeugen gut 22.000 aktive Mitglieder in Österreich, die stärkste Gruppierung davon in Oberösterreich. In der Steiermark sind knapp 2.800 Mitglieder vermerkt. Die Treffen der Kirche finden in der Regel in so genannten Königreichssälen statt. Davon gibt es hierzulande 160.
Lehre
Grundlage der Lehre der Zeugen Jehovas ist der aus der Bibel abgeleitete „Plan Gottes mit der Menschheit“. Dem „allmächtigen Gott und Schöpfer“ Jehova oder Jahwe, sind seine Zeugen zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Als „wahre Christen“ müssen sie Zeugnis für ihren Gott ablegen und die Botschaft von seinem Königreich predigen.
Anders als die großen christlichen Religionen glauben die Zeugen Jehovas nicht, dass die Seele des Menschen nach seinem Tod weiterlebt. Er habe keine, sondern sei die Seele selbst. Den Weltuntergang haben die Zeugen Jehovas mehrfach angekündigt.
Keine Wahlen
Weil sie Politik und Religion für unvereinbar halten, nehmen sie nicht an Wahlen teil. Gleiches gilt für Demonstrationen.
Bekannt sind die Zeugen Jehovas vor allem wegen ihrer stark ausgeprägten Missionstätigkeit, bei der sie von Haus zu Haus ziehen und ihre Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet!“ an die Frau und den Mann bringen wollen. Finanziert werden die Zeugen Jehovas mit - nach eigenen Angaben freiwilligen - Spenden.
Keine Bluttransfusionen, kein Rauchen
Der Glaube greift in allen Bereichen stark in das Leben der Anhänger ein. Aufmerksamkeit erregen die Zeugen Jehovas auch medial immer wieder wegen der Ablehnung von Bluttransfusionen, was mitunter lebensbedrohlich sein kann. Rauchen dürfen Zeugen übrigens auch nicht. Privat bleibt man gerne unter sich. Von Heiraten mit Personen, die keine Zeugen sind, wird abgeraten. Die Ehe ist heilig, Scheidungen nur bei Ehebruch vorgesehen.
Gründung
Gegründet wurde die Gemeinschaft von dem US-Amerikaner Charles Taze Russell Ende des 19. Jahrhunderts als Verlagsgesellschaft der Bibelforscher. 1911 kam Russell erstmals für einen Vortrag nach Wien. Regelmäßige Vorträge gab es ab 1921, ein Jahr später wurde die Tätigkeit auf andere österreichische Städte ausgedehnt.
Im Jahr 1938 gab es in Österreich 550 aktive Zeugen Jehovas. Wegen der Verweigerung des Hitlergrußes und des Wehrdienstes kam es zu Verfolgungen durch das Hitler-Regime, etwa ein Viertel der Anhänger der Glaubensgemeinschaft wurde getötet. Nach dem Krieg nahmen die Zeugen Jehovas ihre organisierte Tätigkeit wieder auf.
Keine Drohbriefe
Dem Anschlag, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Glaubensgemeinschaft gegolten haben dürfte, gingen jedoch keinerlei Drohschreiben, oder Anrufe voraus.
"Das ist für uns eine herausfordernde Situation, wenn so etwas passiert. Die Gemeinde leistet sich nun gegenseitig Seelsorge", sagt Markus Kakavis, Sprecher der Zeugen Jehovas.
Ein ähnlicher Vorfall wie dieser, sei ihm in Österreich nicht bekannt.
Bürgermeister geschockt
Entsetzt zeigte sich am Samstag auch der Bürgermeister von Leibnitz, Michael Schumacher (SPÖ): "Ich habe geglaubt, sie rufen, wegen dem Hochwasser oder dem Weinfest an, aber das." Und dann nach einer Pause: "Unglaublich, dass es so etwas gibt, in einer Zeit, wo die Leute zusammenhalten müssten. Das hebt meine Welt wirklich aus den Angeln gerade", sagte Schumacher zum KURIER.
Staatsschutz ermittelt
Der Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen. Zusätzlich werden alle Gebäude der Zeugen Jehovas verstärkt überwacht. "Entweder durch mehrere Polizeistreifen, oder andere Maßnahmen", erklärt Polizeisprecher Lamb.
Das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) hat eine eigene Ermittlungsgruppe eingerichtet. Kriminalisten des Landeskriminalamtes (LKA) Steiermark, Sprengstoff-Experten der Polizei sowie der Entschärfungsdienst nahmen ebenfalls die Ermittlungen auf. Eine Tatortarbeit und die Spurensicherung wurden noch in der Nacht durchgeführt
Motiv unklar
Ausgeschlossen könne weder ein rechtsradikaler noch ein islamistischer Hintergrund. Ebenso wenig aber, dass es sich um eine persönliche Feindschaft handeln könnte.
Amoktat in Königreichssaal in Deutschland im März
Zuletzt hatte eine Amoktat bei den Zeugen Jehovas in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt. In Hamburg- Alsterdorf war am 9. März ein 35-Jähriger in den Königreichssaal eingedrungen und hatte das Feuer eröffnet. Acht Menschen starben, darunter auch ein ungeborenes Kind, sowie der mutmaßliche Täter. Der übrigens selbst ein Anhänger der Glaubensgemeinschaft war.
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Sicherheitskonzepte in Österreich überarbeitet
Bei den Zeugen Jehovas in Österreich wurden nach der Tat bereits mit Juni die internen Sicherheitskonzepte überarbeitet. So sind eigene Sicherheitsbeauftragte aus der Glaubensgemeinschaft im Saal tätig, aber auch während der Gebetsstunden auf den Parkplätzen unterwegs.
"Solche Vorfälle irritieren natürlich, aber wir werden weiterhin unsere Treffen abhalten und nach außen hin offen bleiben", sagt Sprecher Kakavis.
Polizei ersucht um Hinweise
Die Polizei bitte um Hinweise, falls jemanden Freitagnacht in der Nähe der Südbahnstraße, in der sich der Königreichssal in Leibnitz befindet, etwas aufgefallen sein sollte.
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