Sport

Nach der Gold-Sensation: Das ist Olympiasiegerin Anna Kiesenhofer

Alles war bereit für den Hattrick in Oranje beim olympischen Straßenrennen der Frauen nach den Erfolgen von Marianne Vos 2012 und Anna van der Breggen 2016.

„Ich bin bereit zu leiden“, sagte Annemiek van Vleuten, bereits Weltmeisterin auf der Straße (2019) und im Zeitfahren (2017, 2018). Und das tat die 38-Jährige an diesem Sonntag: Sie kämpfte sich trotz eines Sturzes solo ins Ziel, jubelte über die nun komplette Karriere – und verfiel einige Momente später.

Nicht für Gold hatte sie sich verausgabt, sondern für Silber, wie ihr mitgeteilt wurde. Längst wurde eine andere Siegerin gefeiert.

„Wir haben sie vergessen“, gab später die Schweizerin Marlen Reusser zu Protokoll.

Historisch

„Sie“, das ist eine sensationelle 30-Jährige aus Niederkreuzstetten in Niederösterreich. „Sie“ heißt Anna Kiesenhofer, ist im Brotberuf Mathematikerin an der EPFL im schweizerischen Lausanne, ohne Profivertrag, ohne Team – und all die Favoritinnen hatten sie weder auf der Rechnung noch im Hinterkopf.

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Und nun hat sie 6.178 Tage nach Kate Allens Erfolg im Triathlon von Athen und 6.175 Tage nach den Seglern Roman Hagara und Hans-Peter Steinacher die 27. Goldmedaille für Österreich bei Olympischen Sommerspielen geholt (eigentlich die 21., weil das IOC drei olympische Goldmedaillen in Kunstbewerben (1912 – 1948) und drei Goldene bei den olympischen Zwischenspielen 1906 nicht anerkennt).

In jedem Fall aber ist es die erste österreichische Medaille bei einem Straßenradsport-Großereignis, seit Christiane Soeder 2007 WM-Bronze und im Jahr darauf Silber im Einzelzeitfahren geholt hat.

„Ich hatte noch nie so eine schwere Medaille“, sagte Anna Kiesenhofer, die überhaupt noch nicht allzu viele Medaillen geholt hat. Silber bei den Zeitfahr-Staatsmeisterschaften 2016, Gold 2019, 2020 und 2021, dazu auch noch Gold im Straßenrennen 2019, das war’s.

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2017 fuhr Anna Kiesenhofer eine Saison im Damen-Team von Lotto Soudal, es war ein Jahr, in dem sie kaum einmal die Ziellinie erreichte, und den  Vertrag löste sie vorzeitig auf, um sich ihrem Beruf zu widmen. „Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist und ich lieber nur Hobbysport mache.“ Erst 2019 stieg sie wieder ins Renngeschehen ein. Und nun das:
550 Gramm Silber mit einer rund ein Gramm schwere Goldbeschichtung.

Einfache Rechnung

Weit schwerer wogen freilich drei Faktoren: Glück,  der Überraschungseffekt – und das Funkverbot. Der neutralisierte Auftakt war gerade vorbei, da attackierte Anna Kiesenhofer. Ein Quartett gesellte sich zu ihr, Carla Oberholzer aus Südafrika, Vera Looser (sic!) aus Namibia, Omer Shapira aus Israel und Anna Plichta aus Polen.

Was sollte schon passieren auf den 134 Kilometern, mögen sich die Favoritinnen gedacht haben und ließen die Ausreißerinnen gewähren.
Der Vorsprung wuchs zusehends, im großen Anstieg konnte Vera Looser dann nicht mehr mithalten und gab schließlich auch das Rennen auf. Nach 50 Kilometern fiel auch Carla Oberholzer zurück. Bei Kilometer 76 wurden 9:20 Minuten zwischen dem Trio an der Spitze und den Favoritinnen gemeldet.

im letzten Anstieg setzte sich Anna Kiesenhofer schließlich solo an die Spitze, begann ihr privates Einzelzeitfahren über 41 Kilometer – und brachte schließlich 1:15 Minuten Vorsprung auf Annemiek van Vleuten und 1:29 auf die drittplatzierte Italienerin Elisa Longo Borghini ins Ziel. Die Favoritinnen hatten sich verzählt, sie hatten Anna Kiesenhofer vergessen. Und wussten es nicht.

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Je härter, desto schöner

Die 91. österreichische Medaille bei Sommerspielen war für Anna Kiesenhofer nur „schwer zu begreifen. Ich habe auf der Ziellinie noch gedacht, ich müsste weiterfahren. Ich habe mich völlig geleert. Aber eigentlich sind die harten Siege die befriedigendsten.“

Die 30-Jährige aus der 962-Einwohner-Gemeinde Niederkreuzstetten im niederösterreichischen Bezirk Mistelbach begann ihre sportliche Karriere in Duathlon und Triathlon, eine Verletzung führte dazu, dass sie sich auf den Radsport konzentrieren musste.

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Doch dass es nicht zur großen Profikarriere reichte, hatte zwei Gründe: Persönliches Unwohlsein im Pulk bei Straßenrennen („ Dafür habe ich nicht so den Charakter. Ich mag es nicht so im Feld“) – und berufliche. Anna Kiesenhofer hat ihren Bachelor an der Uni Wien gemacht, den Master an der University of Cambridge, promoviert hat sie schließlich 2016 an der Universitat Politècnica de Catalunya. Und seit 2017 arbeitet sie nun an der  École polytechnique fédérale de Lausanne, der Eidgenössischen Technischen Hochschule am Genfer See.

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„Es hat alles gepasst. Im  Straßenrennen spielt der Faktor Glück eine große Rolle. Ich war zu einem richtigen Zeitpunkt vorne, hatte dann den Mut zu attackieren, und die Gruppe war auch hilfreich, um den Vorsprung gut auszubauen. Schlussendlich war ich die Stärkste in der Gruppe und bin dann vorne weggefahren“, erklärte Kiesenhofer ihre Erfolgsrezept.

Und auch „der Faktor Überraschung war auf meiner Seite. Einer  bekannten Fahrerin hätten sie nicht so viel Vorsprung gelassen, da hatte ich den Vorteil, dass ich ein Underdog bin.“

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Erfrischend ehrlich

Anna Kiesenhofer ist freilich nicht nur intelligent, sondern auch erfrischend ehrlich. „Ich bin  ein bisschen kompliziert und will immer irgendwelche Extrawürste. Drei verschiedene  Mischungen von isotonischen Getränken, und beim Material bin ich auch ein bisschen heikel.“ Der Grund dafür liegt auf der Hand: „Ich bin es halt gewöhnt, alles für mich allein zu machen, und dann hab’ ich halt spezielle Wünsche.“

Wie es weitergeht mit der sportlichen Mathematikerin? Viele Gedanken daran, doch noch einen Profivertrag zu unterschreiben, hat die 30-Jährige jedenfalls nicht. „Vielleicht fürs Zeitfahren. Aber  nicht für Straßenrennen.“

Denn klar ist: Seit diesem Sonntag ist sie kein Underdog mehr. Im Einzelzeitfahren am kommenden Mittwoch müssen die anderen trotzdem keine Überraschung aus Niederösterreich befürchten: Österreich hat keinen Quotenplatz bekommen.