Verrückt vor Freude: Die ausgelassene Meisterfeier der Inter-Fans
Von Christoph Geiler
Auf einmal schien es, als wäre halb Mailand auf den Beinen. Immer mehr Menschen strömten zur Piazza del Duomo, immer lauter und wilder wurde das Treiben, bis die jubelnde und tobende Masse irgendwann den Eindruck erweckte, als lägen sich alle in den Armen.
Nach 14 Monaten Pandemie wirkt so eine ausgelassene Meisterfeier alter Prägung befremdlich. Andererseits ist die Euphorie der Tifosi von Inter Mailand auch irgendwie nachvollziehbar. Der stolze Klub hat eine lange Durststrecke hinter sich, die Anhängerschaft hatte in den letzten Jahren kaum Grund zu feiern und musste viel Hohn und Spott über sich ergehen lassen.
Der Gewinn des Scudetto schien bei vielen Inter-Tifosi nicht nur den aufgestauten Fußball-Frust zu lösen, offenbar diente dieser erste Meistertitel seit elf Jahren für viele Mailänder auch als Ventil nach der Corona-Pandemie, die gerade in der Lombardei so wild gewütet hatte.
Wachablöse
Prompt sah sich der Mailänder Bürgermeister Giuseppe Sala mit heftiger Kritik konfrontiert, weil er die ausgelassene Meisterfeier nicht unterbunden hatte. „Eure Unterstützung bedeutet uns alles“, meinte Inter-Goalgetter Romelu Lukaku via Instagram, der Belgier ließ es sich nicht nehmen, sich selbst unter die Fan-Massen zu mischen und mit den Tifosi zu feiern.
Der Gazzetta dello Sport, die ihren Sitz in Mailand hat, war der Meistertitel von Inter gezählte 23 Seiten wert. Das beweist, wie groß die Sehnsucht nach diesem Triumph war und wie sehr die Öffentlichkeit nach einem neuen Meister gelechzt hat, nachdem Juventus Turin seit 2012 durchgehend am Thron saß.
Kritische Stimmen behaupten, Inter Mailand habe seinen Erfolg nur dem Formtief von Juventus und von Erzrivale AC Milan zu verdanken, der lange Zeit die Tabelle angeführt hatte. Doch damit würde man dem neuen Würdenträger unrecht tun, denn Inter offenbarte im Laufe dieser Saison tatsächlich meisterliche Eigenschaften.
Meistermacher
Es ist allein schon bewundernswert, wie Trainer Antonio Conte und seine Spieler über all die lästigen Nebengeräusche hinweggehört haben, die den Traditionsverein umwehen. Laut Informationen der Gazzetta hätten die Spieler seit Monaten keine Löhne mehr erhalten, die chinesischen Klubeigentümer würden den Verein lieber heute als morgen loswerden.
Es ist eigentlich nicht das Klima für sportliche Höchstleistungen, doch Trainer Antonio Conte ist es gelungen, die Mannschaft bei Laune zu halten und sie auf einen Spielstil einzuschwören, der dem Spieler Antonio Conte wie auf den Leib geschneidert gewesen wäre.
So wie seinerzeit Conte als Abräumer im Juventus-Mittelfeld war, kratzbürstig, raubeinig und energiegeladen, so trat zuletzt auch Inter auf. Das Team pfiff auf Schönheitsideale und präsentierte meisterlichen Zweckfußball. „Der entscheidende Faktor hieß Conte“, analysierte Inter-Legende Giuseppe Bergomi (57), der noch zusammen mit Herbert Prohaska bei den Nerazzurri spielte. „Antonio hat ein stets kompliziertes Umfeld kompakt zusammengehalten.“
Der 51-jährige Süditaliener zählt inzwischen zu den erfolgreichsten Trainern, die das Land hervorgebracht hat. Mit Juventus Turin wurde er drei Mal Meister, in der Premier League führte er den FC Chelsea zum Titel, nun der Triumph mit Inter nach der jahrelangen Dominanz seines Ex-Vereins Juve. „Ein Reich ist nach neun Jahren eingestürzt“, frohlockte Conte.