Das kroatische Phänomen: Die große Flucht in den Erfolg
Die rhetorische Frage hört man hier immer wieder. „Ich soll in fünf Jahren von 2000 Kuna monatlich leben. Wie, bitte, soll das gehen?“ Goran D. nuckelt an seinem kleinen Schwarzen, der in dieser Strandbar zwölf Kuna kostet. Der Meeresblick hilft dem Chefrezeptionisten nicht, seine Zukunftssorgen loszuwerden. Auch nicht die WM-Euphorie, die den Campingplatz Ostro nahe Rijeka heimgesucht hat.
„Die WM geht ebenso wie eine Badesaison vorbei, der tägliche Überlebenskampf bleibt uns aber erhalten“, weiß der 60-jährige Goran D., der im Monat 3000 Kuna, umgerechnet 450 Euro, verdient – in einem Land, in dem die Unterhaltskosten längst denen in der EU angepasst sind. Nur aufgrund seines Alters wird er daheim bleiben.
Exodus
Bereits seit Jahren erlebt Kroatien einen regelrechten Exodus. Die Jungen verlassen fluchtartig das Urlaubsland. Vor allem im Osten des Landes, in Slawonien, läuten die Alarmglocken. „Die Heimatbesuche fallen mir immer schwerer. In meinem Heimatdorf sind nur Greise geblieben“, beklagt die in Wien lebende Ruzica K. die deprimierenden Zustände in der an Bosnien angrenzenden Region „Županjska Posavina“. Aus dieser Gegend stammt übrigens auch Halbfinal-Held Mario Mandzukic, der sich wie viele seiner im Ausland lebenden Landsleute regelmäßig an diversen Sammelaktionen beteiligt.
Nicht nur die „normalen“ Bürger gehen vermehrt weg aus Kroatien, vor allem die Profifußballer zieht es seit vielen Jahren in die großen Ligen Europas. „Die Kicker wissen, dass sie über den Sport viel im Leben erreichen können“, erzählt Nenad Bjelica, aktuell Trainer von Dinamo Zagreb. Der ehemalige Wolfsberg- und Austria-Trainer weiß, wovon er spricht, spielte er doch selbst in der kroatischen Liga für Osijek und wurde zu Kroatiens Fußballer des Jahres 2000 gewählt.
Für Kroatien absolvierte er neun Länderspiele, nahm an der EURO 2004 teil. Jetzt hilft er als Trainer den Nachwuchskickern bei deren Karrieren. „Die Talente opfern auch viel und investieren sehr viel in ihre Karriere. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie das tun müssen, um es in eine der großen Ligen Europas zu schaffen.“
Teamsportler
Der Kroate ist traditionell ein Teamsportler. „Österreich ist dagegen in den individuellen Sportarten stärker. Bei uns trainieren die Kinder von klein auf die Mannschaftssportarten wie Fußball, Handball, Basketball, Volleyball oder Wasserball. Die Ausbildung ist auf einem sehr hohen Niveau, im Fußball bei Dinamo, bei Hajduk Split oder Osijek.“ Zagreb verkaufte vor kurzem zwei Talente an Stuttgart und Roma. „Wir haben weitere drei, die demnächst den Sprung ins Ausland schaffen werden“, so Bjelica.
Die Ballsport-Tradition besteht nicht erst seit der Existenz Kroatiens als Land. „Das rührt schon aus der Zeit davor“, so Bjelica, der vor allem den Charakter und die Mentalität kroatischer Sportler hervor hebt. „Kroaten sind grundsätzlich sture Leute“, lacht er. „Aber dadurch sind sie auch sehr ehrgeizig und können sich in eine Aufgabe verbeißen. Wenn sie etwas erreichen wollen, dann kämpfen sie dafür bis zum Umfallen.“ Wie man bei dieser WM schon bei drei Verlängerungen und zwei Elfmeterschießen gesehen hat.
Ballmächtige
Auch abseits des Königs des Sports regiert die Ball-Macht Kroatien. Die Handballer enttäuschten zwar bei der Heim-EM (Fünfter), holten aber zuvor WM- und Olympia-Gold. Auch die Basketballer bekamen in Übersee keine Körbe. In der NBA waren in der abgelaufenen Saison fünf Kroaten Leistungsträger. Bei Olympia scheiterten die Kroaten erst in einem heiß umkämpften Duell im Viertelfinale an Serbien. Im Volleyball sind zumindest die Damen weltweit in den Top Ten, die Herren Top 20. Auch mit der Filzkugel sind die Kroaten top. Auch, wenn es in Wimbledon zuletzt nicht gut lief, Marin Cilic und Borna Coric sind weltklasse.
Aber nicht nur mit den Bällen können die Kroaten umgehen. Bei den Sommerspielen in Rio holte das kleine Land fünf Mal Gold,drei Mal Silber und zwei Mal Bronze. Zwei Goldene gab’s davon in der Leichtathletik (Diskus- und Speerwurf).