Politik/Inland

Türkis-blaue Zwischenbilanz: Tatsächlich Liebe?

Sie haben sich einen besonderen Platz ausgesucht: Hoch oben in der Hofburg, de facto am Dach des Parlaments und mit Blick über die Stadt, wollen Bundeskanzler Sebastian Kurz und sein Stellvertreter Heinz-Christian Strache an diesem Dienstag Bilanz ziehen: „Ein Jahr Bundesregierung“ steht an.

Zum Jahrestag der Angelobung am 18. Dezember sind es zwar noch ein paar Tage. Aber die großen Linien des ersten Regierungsjahres sind gezogen. Und solcherart zieht auch der KURIER eine vorläufige Bilanz.

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Was hat Türkis-Blau verändert, was vorangebracht?

Das Offensichtliche ist wohl, dass die türkis-blaue Regierung – von Kanzler und Vizekanzler abwärts – um größtmögliche Harmonie bemüht war und ist. „Der Versuch, optisch-medial möglichst gemeinsam aufzutreten, hat sich demoskopisch gelohnt“, sagt ÖVP-Kenner und Wahlforscher Fritz Plasser. „Es gibt eine konstant hohe Zufriedenheit, was Arbeit und Erscheinungsbild der Regierung angeht.“

Bemerkenswert daran: Während Regierungsbeteiligungen in der Vergangenheit für den Junior-Partner fast immer bedeutet haben, dass die Zustimmung im Vergleich zum Wahlergebnis messbar abnimmt, bleibt die FPÖ vorerst von dieser Entwicklung verschont.

Akzeptabler Wert

„Die ÖVP liegt bei den Umfragen teils über dem Wahlergebnis, und auch die Freiheitlichen haben mit rund 24 Prozent einen stabilen und aus ihrer Sicht sehr akzeptablen Wert“, sagt Plasser.

Die betonte Harmonie geht soweit, dass die Kanzlerpartei selbst offenkundige Fehltritte in den Reihen der FPÖ nur in Ausnahmefällen kommentiert.

„Die Harmonie ist sicher einer der Hauptgründe, warum die Zustimmung so groß ist“, sagt Meret Baumann, Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung.

Es wäre aber zu einfach, würde man die hohe Zustimmung allein mit der Abwesenheit von öffentlichem Streit erklären.

„Einer der sichtbaren Unterschiede zur Vorgänger-Regierung ist der, dass sich ÖVP und FPÖ bei den Kern-Themen gegenseitig viel Spielraum lassen“, sagt Baumann. Während die Freiheitlichen bei für die ÖVP wichtigen Themen wie dem 12-Stunden-Tag nachgegeben habe, lasse die Volkspartei im Gegenzug beispielsweise die von der FPÖ forcierte Verteufelung des Migrationspaktes zu. „Jede der beiden Parteien kann für sich punkten.“

Türkis-Blau in Bildern: Wie die Regierung ihre Harmonie inszeniert

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Soviel zum Stil. Wie nachhaltig und mutig sind die angestoßenen Reformen?

„Die angekündigten Themen tragen eine konservative Handschrift“, urteilt Peter Münch, Österreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. „Aber vieles wurde eben nur angekündigt, halb umgesetzt – oder ist, wie die Kürzung der Mindestsicherung – mit offenen Rechtsfragen verbunden.“

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Wahlforscher Fritz Plasser sieht hier einen Bogen zu den guten Umfragewerten: „Die Bundesregierung ist mit dem Versprechen von Veränderungen angetreten, und das wird von den Wählern goutiert. Man hat den Eindruck: Hier wird gearbeitet.“

Dass die Erwartungen vorerst nicht enttäuscht wurden erklärt der Experte damit, „dass wesentliche Reformen wie der Umbau der Sozialversicherungen ja noch gar nicht gemacht wurden“. Anders gesagt: Es ist zu früh für ein abschließendes Urteil.

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Bewährung

Einig sind sich derweil alle Beobachter, dass der Bundesregierung 2019 eine, wenn nicht überhaupt ihre bislang größte Bewährungsprobe ins Haus steht: die EU-Wahl. „Bei der Wahl zum EU-Parlament stehen ÖVP und FPÖ auf zwei verschiedenen Seiten“, sagt Beobachter Münch.

Die Vorzeichen seien in den vergangenen Wochen zu beobachten gewesen.

Münch: „Während sich der Kanzler von Viktor Orban abgrenzt und hier Pflöcke einschlägt, indem er sich demonstrativ mit Orban-Gegner George Soros trifft, gehen die Freiheitlichen in eine andere Richtung.“

Personifiziert wird dieser inner-koalitionäre Spalt durch die Person des FPÖ-Spitzenkandidaten Harald Vilimsky.

„Aus Sicht der Regierung ist er eine ,loose gun‘, also ein Sicherheitsrisiko, das schon mit ein, zwei provokanten Interview-Äußerungen akut werden kann“ , sagt Wahlforscher Plasser.

Meret Baumann sieht in Vilimsky ebenfalls eine „unguided missile“ – und ortet veritables Risiko-Potenzial für die Koalition: „Die EU-Wahl kann schnell zu einer Belastungsprobe werden.“

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