Politik/Inland

100 Tage Türkis-Blau: „Substanziell bürgerliche Politik“

Am kommenden Dienstag ist es hundert Tage her, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen die türkis-blaue Regierung angelobte. In dieser kurzen Zeitspanne ist unglaublich viel passiert, auch Dinge, die mit der neuen Regierung nicht unmittelbar zu tun haben. So ist dank der Koordinierung durch Alt-Bundespräsident Heinz Fischer das Gedenkjahr bisher perfekt verlaufen, die Rede von André Heller zum 80. Jahrestag des „Anschlusses“ war ein denkwürdiger Höhepunkt.

Aus der Sicht von Kanzler Sebastian Kurz ging der Machtwechsel von Rot-Schwarz zu Türkis-Blau gut über die Bühne. Sofort nach der Angelobung düste der Kanzler nach Brüssel, Paris und Berlin, um in den wichtigen EU-Hauptstädten Bedenken wegen der FPÖ auszuräumen. „Österreich wird kein Višegrad-Land“, versicherte Kurz Angela Merkel und Emmanuel Macron. Überhaupt legt Kurz seine Rolle als Kanzler sehr außenpolitisch an. Er ist fast so viel unterwegs wie früher als Außenminister, in den ersten 100 Tagen, in denen er so Kleinigkeiten wie ein Doppelbudget zu verhandeln hatte, brachte Kurz auch noch Reisen zu Wladimir Putin und Papst Franziskus unter.

Kalkül

Dahinter steckt auch Kalkül. Der Kanzler soll über die Niederungen der Innenpolitik erhaben sein. Während seine Abgeordneten letzte Woche bei der Raucher-Abstimmung ihre Würde der Koalition opfern mussten, schwebte Kurz in den lichten Höhen des Rats der europäischen Regierungschefs in Brüssel.

Nach hundert Tagen zeigt sich, Kurz führt seine Regierung so, wie der KURIER Kurz’ Arbeitsweise an dieser Stelle bereits im Wahlkampf beschrieben hat: Kurz wird nicht müde, wenn nötig hundert Mal dieselbe Botschaft in die TV-Kameras zu sagen, damit sie auch ja wirklich jeder mitbekommt. Und: Abweichende Meinungen in den eigenen Reihen betrachtet er als „Chaos“, das er nicht duldet.

Mit den vielen Quereinsteigern im Regierungsteam tut sich Kurz leichter, als wenn es sich bei seinen Ministern wie früher um ÖAABler oder Wirtschaftsbündler handeln würde. Da müsste Kurz die ganze Lobby dahinter überwinden, während er es jetzt mit Einzelpersonen zu tun hat. Dennoch wendet Kurz viel Energie auf, um die Regierung auf Linie zu halten, weil er offenbar jedes Detail unter Kontrolle haben will. Beispiel aus dem Regierungsalltag: Bildungsminister Heinz Faßmann hat gerade die Aufgabe, „Deutsch vor Schuleintritt“ öffentlich zu kommunizieren.

Kurz-Poster im Klub

Die ÖVP-Landeshauptleute lassen sich nur bedingt in dieses System einspannen, der Parlamentsklub hingegen schon. Dort hängt – durchaus symbolhaft – neuerdings ein gerahmtes Poster des Parteichefs an der Wand.

Während sich Kurz im Wahlkampf ideologisch noch eher bedeckt hielt (er schaffte beispielsweise den Pflegeregress ab und verzichtete auf ein höheres Frauenpensionsalter), nimmt nach 100 Tagen Regierung sein Weltbild stärkere Konturen an. Es geht ihm um eine „substanzielle Veränderung des Landes in Richtung bürgerliche Politik“. Diese definiert Kurz in Gegensätzen zur SPÖ: Schuldenmachen versus Nulldefizit. Hohe Steuern versus Entlastung (niedrigere Arbeitslosenversicherung, Familienbonus). Laissez faire gegen Law & Order (Integration). Kurz: „Mit der SPÖ gab es in der Regierung dauernd Konflikte, ideologische Konflikte. Mit der FPÖ habe ich die Möglichkeit, Dinge auf den Boden zu bringen, die gut für das Land sind.“

Alles eitel Wonne, also? Nicht ganz.

Unberechenbarer Strache

Man kann sich ausmalen, wie es einem Kontrollfreak wie Kurz mit Heinz-Christian Straches Hang zu mitternächtlichen Facebook -Postings geht. Spontane Ausbrüche, unkontrollierbare Reaktionen, tagelange Aufregung. Als Milderungsgrund anerkennt Kurz, dass Strache mit den markigen Postings seine Anhänger bei der Stange halten wolle.

Ganz nach dem Geschmack des Kanzlers ist Norbert Hofer. Dieser verhält sich ruhig im Hintergrund. „Hofer agiert so, als hätte er nie etwas anderes gemacht als regieren“, loben die Türkisen.

Kontrollsucht

André Heller sagte in seiner Gedenkrede, der Pluralismus mache die Demokratie aus. Dieser Satz beschäftigt Kurz dem Vernehmen nach sehr. Er findet, die Medien berichten einseitig negativ gegen seine Regierung.

Solche und ähnliche Klagen gab’s noch von jedem Kanzler, allerdings nicht schon nach hundert Tagen.

Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Kontrollsucht und freier Journalismus ganz allgemein nicht gut vertragen.