Politik/Inland

Landau: "Eine Welt ohne Hunger ist möglich"

KURIER: Im Juni haben Sie Burundi und Ruanda besucht. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Ruanda prosperiert?

Michael Landau: In Ruanda zeigt sich, was bei einer halbwegs funktionierenden Regierung und internationaler Unterstützung möglich ist. Das ist sichtbar an ganz banalen Dingen wie dem Verbot von Plastiksackerln. Es gelingt Stück für Stück, ein wenig Fremdenverkehr aufzubauen oder Unternehmen ins Land zu bringen, wie es Volkswagen jüngst gezeigt hat. Hier hat ein Land die Chancen genutzt – auch jene der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.

Ruandas Nachbar Burundi ist das fünftärmste Land der Welt. Dort leidet die Bevölkerung Hunger, während in Ruanda Wolkenkratzer entstehen; die USA und China investieren.

815 Millionen Menschen leiden weltweit an Hunger, alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an Hunger. Burundi ist eines der am stärksten betroffenen Länder. Es geht nicht zuletzt um faire Chancen. Darum, dass afrikanische Märkte nicht von subventionierter Tiefkühlware überschwemmt werden. Ein Grund für die Ursachen des Hungers ist die Handelspolitik. Afrika könnte sich selbst ernähren. Stattdessen gibt der Kontinent jährlich 36 Milliarden US-Dollar für den Import von Lebensmitteln aus, weil die Märkte in Afrika von ausländischen, billigen Waren überschwemmt werden. Zudem pachten große Konzerne Land zur Agrartreibstoffgewinnung statt für Nahrungsmittel. Oder sie verteilen zunächst gratis Saatgut, um hernach dort Kunstdünger zu verkaufen. In einer Welt, die genügend Lebensmittel für alle produziert, sollte niemand mehr hungern müssen.

Wer ist verantwortlich für den nach wie vor herrschenden Hunger, wenn es denn genug für alle gibt?

Wir alle. Wenn ich an den Senegal denke, wo Menschen bis vor kurzem noch vom Fischfang leben konnten, das Meer aber wegen internationaler Fangflotten fast leergefischt ist. Oder an Äthiopien: Dort stehen reihenweise Glashäuser, in denen Gemüse für die Vereinigten Arabischen Emirate oder Blumen für Europa gezüchtet werden. Und das alles unter Bedingungen, die wir uns gar nicht vorstellen können und wollen. Ich bin überzeugt: Wir brauchen einen Marshall-Plan mit Afrika. So, wie die USA einst Europa geholfen haben, die Folgen des Krieges, Hungers und Niedergangs zu bewältigen. Heute ist die internationale Staatengemeinschaft gefordert, die Länder Afrikas zu unterstützen.

Derzeit ist in der EU von Grenzsicherung, Rückführungen und Anlandezentren die Rede und nicht primär von Hilfe vor Ort.

In der aktuellen Debatte möchte ich die Bundesregierung erinnern: Wer eine Route schließt, der hat noch keine Fluchtursache bekämpft. Die Probleme Afrikas sind unsere. Wie Hugo Portisch gesagt hat: „Um Europa zu retten, müssen wir Afrika retten.“ Nur durch Stabilität in Afrika wird eine langfristige Lösung der Migrationsfrage möglich sein. Die Zeit drängt und wird durch Zuwarten nicht besser, denn: Solange Krieg herrscht, der Klimawandel voranschreitet, Hunger besteht und mit Waffenhandel viel Geld verdient wird, wird es Migration geben.

Warum sollte gerade Österreich auf dieses weltweite Problem eine Antwort haben?

Es ist gute Tradition Österreichs, auf die Ärmsten zu achten. Gerade ein kleines Land, dem man keine Machtambitionen nachsagen kann, das keine koloniale Vergangenheit hat, kann sich für und in Afrika engagieren. Vor einigen Tagen hat der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller die Schaffung eines EU-Afrika-Kommissars angeregt. Gerade im Zuge der EU-Ratspräsidentschaft könnte Österreich diese Idee aufgreifen. Kanzler Kurz hätte, da bin ich mir sicher, bei einem etwaigen EU-Afrika-Gipfel in Wien starke Verbündete an seiner Seite. Es geht darum, die Hilfe für Afrika auf die Agenda zu bringen. Marshall-Plan ist als Chiffre zu verstehen für ein partnerschaftliches Handeln, von dem alle profitieren, wenn sie es gut machen. In Deutschland wird die Diskussion um Hilfe für Afrika – auch als Diskussion über Chancen – derzeit engagierter geführt als bei uns.

Wie könnte ein Marshall-Plan für Afrika im Detail aussehen?

Eine Partnerschaft von Afrika und Europa könnte eine Win-win-Situation für alle sein. Auch die Amerikaner haben damals nicht aus reiner humanitärer Nächstenliebe gehandelt, sondern sich gesagt: Wenn wir das gut machen, dann sind das unsere Wirtschaftspartner von morgen. Aus Sicht der Caritas sollte so ein Marshall-Plan vier Säulen beinhalten. Erstens geht es um Frieden und Rechtsstaatlichkeit, in einzelnen Ländern um Korruptionsbekämpfung. Die zweite Säule betrifft Investitionen in Bildung und kleinbäuerliche Landwirtschaft. Letzteres deshalb, weil 70 Prozent der Menschen in Afrika in ländlichen Regionen leben und die kleinbäuerliche Landwirtschaft ein Schlüssel für die Welternährung ist. Drittens geht es um Partnerschaften in Wirtschaft und Handel – auch, um viertens ein Sozialsystem aufbauen und die schlimmste Armut abfedern zu können. In Österreich gilt es in einem ersten Schritt, die Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit und jene für den Auslandskatastrophenfonds substanziell aufzustocken.

Von welchen Summen sprechen wir bei substanzieller Aufstockung?

Es ist seitens der Regierung immer wieder unter dem Stichwort „Hilfe vor Ort“ angekündigt worden, die Mittel zu erhöhen, aber es ist nichts geschehen. Die Hilfe wurde gekürzt statt verstärkt. Das Doppelbudget Österreichs sieht vor, dass der Auslandskatastrophenfonds nicht wie im Regierungsprogramm angekündigt erhöht, sondern von 20 auf 15 Millionen Euro gekürzt wird. Die Entwicklungshilfe soll ab 2019 um 10 Millionen Euro mehr und damit 103 Millionen Euro betragen. Die von Kurz als Außenminister angekündigte Verdoppelung des Budgets bis 2021 findet also offenbar nicht statt. Im Vergleich zu ebenfalls kleinen Ländern wie Schweden, Luxemburg, Norwegen oder der Schweiz sind wir betreffend Auslandshilfe noch nicht in der richtigen Liga.

2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 beschlossen und sich zu nachhaltigen Entwicklungszielen bekannt. Zu den Top 3-Zielen gehört das Ende des Hungers. Ist dieses Ziel realistisch?

Ich habe den festen Glauben, dass eine Welt ohne Hunger möglich ist, denn Hunger ist kein Naturgesetz. Doch wir tun noch viel zu wenig. Erst im Juli erschien ein Rechnungshofbericht, der zeigt, dass die Agenda 2030 im Regierungsprogramm zwar erwähnt, aber in keinen Kontext zu konkreten Maßnahmen gesetzt wird. Das muss sich ändern. Es geht um die Schärfung des positiven Möglichkeitssinns, womit ich an den FAZ-Artikel von Hans Rosling anschließen möchte, der 32 Dinge ausgemacht hat, die sich verbessert haben. Die extreme Armut hat sich verringert – schneller als in jeder anderen Phase der Weltgeschichte. Die Kindersterblichkeit hat sich fast halbiert, der Anteil der Unterernährten ist drastisch gesunken. Eine Welt ohne Hunger ist ebenso möglich.

Was verstehen Sie angesichts Afrikas unter Möglichkeitssinn?

Ein Blick zurück zeigt: Wir haben die Möglichkeit und die Mittel, unsere Welt, die Gegenwart und die Zukunft gut zu gestalten. Ich bin überzeugt, dass wir eine Chance verstreichen lassen, wenn wir jetzt in Afrika nicht handeln. Wenn wir jetzt aufhören, blauäugige Diskussion zu führen und beginnen, über den Tellerrand Richtung China, USA oder Indien zu blicken, dann wird klar: Die Welt wird kleiner, und mit nationalen Egoismen kommen wir keinen Schritt weiter.