Großmacht vor Merkels Abschied: Deutschland, deine Kanzler
Nur acht Bundeskanzler regierten die Bundesrepublik Deutschland in den 69 Jahren seit ihrem Bestehen – und alle symbolisieren sie mit inzwischen historischen Fotos ein Stück Weltgeschichte.
Wer die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Besatzungszeit bis 1949 führte, musste vor allem Außenpolitik machen. Oder hat mit innenpolitischen Entscheidungen weltweit Aufsehen erregt. Das wird auch für die oder den Nachfolger Angela Merkels gelten.
Die Wirtschaft des stärksten Landes der EU steht dabei ebenso auf der Agenda wie die Entwicklung des Nationalbewusstseins, das die Welt aufmerksam beobachten wird.
Konrad Adenauers Kanzlerschaft von 1949 bis 1963 war vom Wiederaufbau des zerstörten Landes geprägt, vor allem aber von der Wiedereingliederung Deutschlands in die Weltgemeinschaft. Dazu gehörte vor allem ein freundschaftliches Verhältnis mit Frankreich. Der Christdemokrat aus dem Rheinland war als Kölner Oberbürgermeister von den Nazis abgesetzt worden und später auch in Gestapo-Haft gewesen. Dennoch verstanden es nicht alle Franzosen, dass Charles de Gaulle, der Held der Résistance, im September 1958 den Deutschen in sein Privathaus in Colombey les Deux Églises einlud. Fünf Jahre später wurde der französische Staatspräsident in Bonn bejubelt, als er vom Balkon des Rathauses aus erklärte, dass er dem „großen deutschen Volk“ vertraue. Und dann rief: „Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!“
Von Adenauer zu Erhard
Adenauer war es auch, der im März 1966 den Gründervater Israels, David Ben-Gurion, in dessen Haus besuchte. Da war bereits Ludwig Erhard Bundeskanzler. In seine Amtszeit fiel die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel. Erhard regierte nur drei Jahre, von 1963 bis 1966, zuvor war er populärer, als „Vater des Wirtschaftswunders“, das kein Wunder war. Der Ökonomieprofessor hatte schon vor der Gründung der Bundesrepublik im Sommer 1948 mit der Währungsreform und marktwirtschaftlichen Maßnahmen für Aufschwung in den Westzonen gesorgt.
Die Amtszeit von Kurt Georg Kiesinger (1966 bis 1969) verlief nicht sehr glücklich. Die Verhandlungen mit der FDP, die bis dahin stets mit der Union regiert hatte, scheiterten, Kiesinger bildete die erste Große Koalition mit der SPD. Dass der langjährige Ministerpräsident Baden-Württembergs ab 1933 Mitglied der NSDAP war, wurde erst in seiner Kanzlerschaft zum großen Thema, vor allem wegen der Ohrfeige, die ihm Beate Klarsfeld beim CDU-Parteitag im November 1968 auf offener Bühne verabreichte. Davon gibt es kein Bild, aber danach wurde der sichtlich schockierte Kiesinger ebenso fotografiert wie die Festnahme von Beate Klarsfeld.
Brandts Ostpolitik
Willy Brandt wurde 1969 auch im dritten Anlauf mit seiner SPD nur Zweiter, aber er fand in der FDP einen Partner, mit dem er die Mehrheit im Bundestag erreichte. Sein Kniefall im Warschauer Getto im Dezember 1970 war die gelungene Bitte der Deutschen um Verzeihung – und der Ausdruck, mit den Nachbarn im kommunistischen Osten friedlich zusammenleben zu wollen. Auch mit den Deutschen in der DDR. Im März traf Brandt in Erfurt den Ost-Berliner Ministerpräsidenten Willi Stoph. Bejubelt wurde nur der Willi aus dem Westen, trotz der vielen Stasi-Agenten in der riesigen Menschenmenge. Und so schrieb Brandt in seinen Erinnerungen: „Der Tag in Erfurt, gibt es einen in meinem Leben, der emotionsgeladener gewesen wäre?“
Es gibt auch Bilder, die nur im Kopf entstehen, etwa als SPD-Fraktionschef Herbert Wehner ausgerechnet bei einem Moskau-Besuch im Sommer 1973 meinte: „Der Herr Bundeskanzler badet gerne lau.“ Geschwächt durch die Affäre um den Spion Günter Guillaume trat Brandt bald zurück .
Schmidt: Macher und Denker
Helmut Schmidt, von 1974 bis 1982 im Amt, musste gegen eine Wirtschaftsrezession und gegen die RAF-Terroristen kämpfen. Der Macher rief die Führer der großen Industrienationen zusammen, alles immer bestens abgestimmt mit Frankreich – Staatspräsident Valéry Marie René Giscard d’Estaing war ein kongenialer Partner. Schmidt postulierte stets, dass Deutschland zwar wirtschaftlich ein Riese sei, aber auf Grund seiner Geschichte politisch ein Zwerg bleiben müsse. Später schrieb er mehr Bücher als alle anderen Politiker. Da appellierte er vor allem an Pflicht und Verantwortungsgefühl von Inhabern staatlicher Macht. Sein Biograf Theo Sommer von der Hamburger Zeit sah bei Schmidt auch den „Philosophen im Politiker“.
Helmut Kohl sah sich vor allem als Historiker. Einig war sich der Christdemokrat mit SPD-Schmidt darüber, dass Deutschland für immer in der Europäischen Union eingebunden sein müsse. Auch Kohl pflegte wie alle seine Vorgänger ein enges Verhältnis zu Frankreich, am besten symbolisiert durch das Bild von Kohl und François Mitterrand, als beide Hand in Hand vor den Kriegsgräbern von Verdun stehen.
Kohl – Gorbatschow
Dass Kohl der Kanzler der deutschen Einheit wurde, war zunächst Glück, weil auch er den Zeitpunkt der Öffnung der Mauer nicht kannte und noch zwei Jahre davor DDR-Staatschef Erich Honecker nach Bonn eingeladen hatte. Dann aber bewährten sich Kohls enge Kontakte zu US-Präsident George Bush und seine langsam entwickelte Freundschaft zu Michail Gorbatschow.
Nach einem mehr als missglückten Vergleich zwischen Goebbels und Gorbatschow in einem Newsweek-Interview im Oktober 1986 bemühte sich Kohl umso mehr um den Sowjetführer. Bei einem Treffen im Kaukasus im Juli 1990 wurde die deutsche Einheit perfekt gemacht, Kohls Strickjacke wurde Kult.
Gerhard Schröder, der von 1998 bis 2005 regierte, verteidigt in seinen Memoiren („Entscheidungen“ ) seine „Agenda 2010“, ein Bündel von Maßnahmen zur Senkung von Arbeitslosigkeit und Ankurbelung der Wirtschaft. (Stichwort Hartz IV). Der SPD-Politiker hält noch heute die Belastung für Teile der Bevölkerung für richtig, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gestärkt hätten. Außenpolitisch zeigte sich Schröder ablehnend gegen den Irakkrieg von Georg W. Bush im März 2003. Aber seine rot-grüne Regierung war die erste, die mit dem NATO-Einsatz im Kosovo Truppen ins Ausland entsandte. Dass er Wladimir Putin einen „lupenreinen Demokraten“ nannte, hängt ihm noch heute nach, noch dazu, wo er in Diensten russischer Staatsunternehmen steht. In seinen Memoiren schreibt er vom „Bedürfnis Russlands, als Teil Europas angenommen zu werden“.
Angela Merkel und die Selfies mit Flüchtlingen – diese Bilder bleiben ihr und den Deutschen. Die Kanzlerin wurde für ihre Menschlichkeit gelobt und musste sich gleichzeitig den Vorwurf des Staatsversagens gefallen lassen, weil sie die Grenzen nicht geschützt habe. Durch ihre analytischen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Unterdrückung von Emotionen hat sie aber viele innen- und außenpolitischen Konflikte überstanden.
Großmacht wider Willen
Sebastian Haffner schreibt in der Neuauflage seines Buches „Von Bismarck zu Hitler“ im Jahr 1990: „ Die Wiederherstellung des 80-Millionen-Kolosses, wenn sie denn gelingen sollte, bietet Anlass, seine bisherige Geschichte möglichst klar ins Gedächtnis zu rufen.“ Die acht Bundeskanzler haben die Großmacht wider Willen mit historischem Verantwortungsbewusstsein geführt. Wer auch immer Merkel nachfolgt, wird mit dem aufkeimenden Nationalismus umgehen müssen, der in Deutschland aus gutem Grund genauer beobachtet wird.
Der Historiker Arnulf Baring schreibt in seiner Autobiografie „Der Unbequeme“, es wäre ein Schwächezeichen, wenn „der Europagedanke vom Gedanken der Nation ablenken würde“, appelliert aber an „Patriotismus statt Nationalismus“. Herfried und Marina Münkler wiederum hoffen in ihrem Buch „Die neuen Deutschen“ auf genau diese – nämlich „Deutsche, die auf ein weltoffenes und nicht mehr ethnisch definiertes Deutschland setzen“.
Deutsche Leitkultur
Friedrich Merz, von Merkel entmachtet und nun am Weg, ihr Nachfolger zu werden, hat den Begriff der „Leitkultur“ zwar nicht erfunden – das war Bassam Tibi –, aber er hat schon 2000 mit ihm Aufsehen erregt. Der aus Syrien stammende deutsche Politologe Tibi meinte damit Menschenrechte, Aufklärung, Trennung von Kirche und Religion – das müsse jeder Zuwanderer akzeptieren. Die Debatte darüber wird mit oder ohne Merz kommen.
Deutschland wirtschaftlich innovativer machen, die europäische Einigung nie aus den Augen lassen und ein Nationalgefühl entwickeln, das alle umfasst, die sich der erfolgreichen Demokratie und einem „Verfassungspatriotismus“ zugehörig fühlen – das muss die nächste Führung in Berlin schaffen. Und das alles in einer Welt im Umbruch.
Was für eine Aufgabe.