Blick in die Welt der Zeugen Jehovas: Gehen Sie zu weit?
Von Uwe Mauch
Er hat sich das nicht ausgesucht. Die Zeugen Jehovas traten in sein Leben, da war er gerade einmal sechs Jahre alt. In seinem Buch „Jehovas Gefängnis“ berichtet Oliver Wolschke, wie ihn sein Glaube gefangen genommen hat.
Der heute 33-jährige Berliner ist seit zwei Jahren kein Zeuge mehr. Doch er erinnert sich im Buch und im Interview mit dem KURIER noch sehr genau, wie er als Kind behandelt wurde, wie er später trotz seiner inneren Zweifel andere Menschen missionierte und wie schwer es ihm und seiner Frau fiel, sich aus der geistigen Gefangenschaft zu lösen.
KURIER: Herr Wolschke, erlebten Sie Ihre Zeit bei den Zeugen Jehovas als Gefängnis?
Oliver Wolschke: Als Zeuge Jehovas entwickelt man neben seinem authentischen Ich ein zweites, ein Zeugen-Ich. Dieses andere Ich übernimmt mit der Zeit die Kontrolle – und unterdrückt die eigenen Gefühle, die eigenen Wünsche. Das Perfide daran: Man hat das Gefühl, dass man alles freiwillig, aus innerer Überzeugung tut.
Wie haben Sie die Zeugen als Kind wahrgenommen?
Meine Mutter hatte sich von meinem Vater scheiden lassen und zog mit mir in einen anderen Stadtteil von Berlin. Sie steckte gewissermaßen in einer Lebenskrise und sie hatte noch keinen Anschluss in der neuen Umgebung gefunden. Die Zeugen Jehovas klingelten genau in diesem Moment an unsere Wohnungstür.
Und wie war das für Sie?
Ich habe anfangs rebelliert. Ich konnte als Kind nicht verstehen, warum es plötzlich zu Weihnachten, zu Ostern und an meinem Geburtstag keine Feier und keine Geschenke mehr gab. Vor allem in der Schule fühlte ich mich deswegen ausgegrenzt. Ich hatte oft das Gefühl, anders zu sein, ein Außenseiter.
Wann ließ die Rebellion nach?
Das war ein schleichender Prozess. Drei Mal pro Woche ging ich mit meiner Mutter zur Versammlung (lokale Gemeinde, Anm.). Dort wurde ich rückblickend betrachtet durch ständige Wiederholungen indoktriniert. Irgendwann wurden die irrationalen Ansichten Realität.
Hatten Sie später nie Zweifel?
Vorerst nicht, obwohl ich mich mit 18, 19 zwei Mal vor einem Rechtskomitee der Zeugen rechtfertigen musste, weil ich unverheiratet mit einer Frau geschlafen hatte. Danach bekam ich schwere Depressionen. Ich habe damals sogar meiner Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben. Aufgrund meiner doch ernsthaften Selbstmordabsichten wurde ich in die Psychiatrie eingeliefert.
Und dann wollten Sie doch weiterleben. Wie ging das?
Ich habe dann meine heutige Frau kennengelernt, die damals noch keine Zeugin war. Weil wir zusammen lebten, hat man mich ausgeschlossen. Ich wollte zurück. Als meine Frau Interesse an den Zeugen fand und wir heirateten, wurde ich wieder aufgenommen.
Wie sehr haben Sie sich dann vor Harmagedon, dem endgültigen Ende, gefürchtet?
Die Sorge war immer da. Dass ich nicht gut genug wäre, dass ich mich nicht genug einsetzen würde, um ins Paradies zu kommen. All die Jahre habe ich mich auch vor dem Teufel und den Dämonen gefürchtet. Schon als Kind hat man mir Schauergeschichten erzählt, dass sie nur darauf aus sind, mich auf ihre Seite zu ziehen.
Und die Zweifel, wann kamen die ersten Zweifel bei Ihnen?
Mitte zwanzig geriet ich in eine ernste Glaubenskrise. Da bin ich im Internet zufällig auf Seiten von so genannten Abtrünnigen gestoßen. Dadurch kam mein Bild von der absolut perfekten Organisation ins Wanken. Ich habe das Gespräch mit meiner Mutter gesucht, doch sie hat mir gut zugeredet: „Die Abtrünnigen wollen dich von Jehova wegziehen, sie sind vom Teufel geleitet.“ Das hat mir zunächst geholfen, doch meine inneren Zweifel blieben.
Dann kamen binnen zwei Jahren Ihre Söhne zur Welt.
Sie waren der Anfang eines glücklichen Endes. Denn als Vater stellte ich mir die Frage: Wäre ich tatsächlich imstande, wie von den Zeugen Jehovas verlangt, eine lebensrettende Bluttransfusion für mein eigenes Kind abzulehnen? Und was, sollten sich meine Söhne von den Lehren der Glaubensgemeinschaft abwenden, würde ich dann den Kontakt zu ihnen komplett abbrechen?
Wie hat Ihre Frau reagiert?
Sie war zunächst abweisend, doch innerlich fühlte sie das gleiche wie ich.
Was hat sie umgestimmt?
Der leugnende Umgang der Organisation mit sexuellem Kindesmissbrauch. Das konnten wir beide nicht länger akzeptieren.
Ließ man Sie einfach gehen?
Es kamen dann noch einmal zwei Älteste zu uns in die Wohnung, die uns gut zureden wollten. Das waren langjährige Freunde, und sie hatten selbst Tränen in den Augen. Wir haben versucht zu vermitteln: Man kann doch befreundet sein, auch wenn man nicht an denselben Gott glaubt. Aber das war für sie nicht akzeptabel. Auch meine Mutter brach jeglichen Kontakt zu uns ab.
Wie fühlen Sie sich heute?
Frei. Total glücklich. Ich freue mich vor allem für die Kinder, die jetzt selbstbestimmt aufwachsen und frei entscheiden können, wie sie leben möchten.
Sind Sie den Zeugen Jehovas im Nachhinein böse?
Ich suche bei niemandem die Schuld. Wir waren Verführte einer Ideologie. Natürlich ist das schade. All die unnötigen Ängste und Gehirngespinste. Aber ich bereue auch nichts. Sonst wäre ich auch nicht der Mensch geworden, der ich heute bin. Immerhin kann ich meine Kindheit und Jugend noch einmal durch die Augen meiner Kinder erleben.
Information und Beratung
Oliver Wolschke arbeitet in der Online-Redaktion einer Berliner Tageszeitung. Seit seinem Austritt bei den Zeugen Jehovas engagiert er sich bei „JW Opfer Hilfe“, einer privaten Initiative von religiös und weltanschaulich unabhängigen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, über Menschenrechtsverstöße bei den Zeugen, Sekten und destruktiven Gruppen zu informieren und Ausstiegswilligen psychologische Hilfe zu bieten. Info: http://jw.help.
In Österreich bietet jede Diözese der katholischen Kirche Beratung. Mehr: https://www.katholisch.at/weltanschauungsfragen