Leben/Gesellschaft

Schule stresst die ganze Familie

PISA-Studie, Versagensangst, Schulfrust. Eltern von schulpflichtigen Kindern stehen zunehmend unter Druck. Wie sehr dies das Familienleben beeinflusst, wurde jetzt in Deutschland untersucht. Dazu wurden 255 Familien und Lehrer befragt. Das Ergebnis: Besonders für die Mittelschicht ist die Schule Stressfaktor Nummer eins. In Österreich ist das kaum anders. Die Studienautorin Christine Henry-Huthmacher war auf Einladung des Hilfswerks in Wien. Im Interview sprach sie über Sorgen der Mittelschicht, gestresste Lehrer und entmündigte Kinder.

KURIER: Die Mittelschicht fühlt sich durch die Schule besonders belastet. Warum?

Christine Henry-Huthmacher: Der Druck kommt über die Eltern selbst. Sie leben in einem Spannungsfeld: Einerseits wollen sie ihrem Kind eine Art Bullerbü ermöglichen. Andererseits sehen sie, dass das Kind einem harten Wettbewerb ausgesetzt ist, weil es heute mehr Gymnasiasten gibt als je zuvor. Die Matura als Abschluss reicht deshalb nicht mehr aus. Es gilt, auch gute Noten zu haben.

Wie kann man gegensteuern?

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Wir haben eine gute duale Ausbildung, die völlig aus dem Fokus geraten ist, weil es einen Trend zu Höherqualifizierung gibt: Jeder, der kann, soll maturieren. Das ist der Appell der OECD. So wird die Lehre unattraktiv. Dazu kommt, dass viele Jugendliche eine Lehre ablehnen, weil sie „sich die Hände nicht schmutzig machen wollen.“ Zudem kennen viele Migranten das System nicht. Und Berufe wie z. B. Altenpfleger sind mit ihrem Männlichkeitsbild nicht vereinbar.

Soll Politik darauf reagieren?

Es ist ihre Aufgabe, die duale Ausbildung wieder attraktiv zu machen. Leider gibt es auch immer weniger Unternehmer, die ausbilden, weil sie sagen, dass die Bewerber nicht geeignet sind. Lehrlinge sind nicht pünktlich, können nicht rechnen etc.

Ist die Lehre mit Matura der richtige Weg, die Ausbildung attraktiv zu machen?

Sicher ist das interessant. Wir haben es in Deutschland so geregelt, dass der Meistertitel zum Studium berechtigt.

Wie muss sich Schule ändern, damit Kinder unter dem Druck nicht zerbrechen?

Die Eltern suchen sich jetzt schon die Schulen sehr genau aus. In Berlin haben wir z. B. viele Privatschulen und in Hamburg Stadtteilschulen (Gesamtschulen, Anm.), die vom Niveau sehr unterschiedlich sind. Wo sie gut sind, geben Eltern ihre Kinder auch dorthin. Allerdings kann dieser Schultyp nicht dazu genutzt werden, um Jugendliche aus verschiedenen Schichten zu mischen. Diese Versuche sind wohlmeinend. Doch Eltern lehnen sie ab, weil sie Schulen auf unterschiedlichen Niveau wollen. Dennoch bemerken wir leider in allen Schulformen, dass das Niveau sinkt.

Warum ist das so?

Die Jugend ist anders. Wir haben kein Bildungsprivileg mehr, sondern Bildungszwang. Einige Jugendliche antworteten darauf mit „Chillen“. Die breite Masse ist abgelenkt durch Medien, zum Teil auch von den Anforderungen überfordert. Neue Medien wie Smartphones wirken sich da negativ aus. Auch sprachlich sind sie immer mehr zurück. Es wird zwar kommuniziert, aber nur noch kryptisch. Dazu kommt die Sprachlosigkeit in den Familien. Besonders in der Unter- und Oberschicht.

Muss sich die Schule ändern?

Das Problem ist: Eltern wollen nicht schon wieder eine Reform. Änderungen braucht es sehr wohl – und zwar in der Didaktik. Aus Studien wissen wir, dass Schüler häufig zu sehr sich selbst überlassen bleiben, etwa beim offenen Lernen. Das selbstständige Kind, das sich selbst entwickelt, ist eine schöne Idee – aber so ist die Realität leider nicht. Auch in der Erziehung funktioniert dies nicht. Im Gegenteil: Das Kind wird zunehmend entmündigt. Die Mutter sitzt zu Hause und lernt mit ihm, damit es einen guten Abschluss schafft. Eltern sehen sich ja verantwortlich dafür, dass ihr Kind einen guten Start ins Berufsleben hat. So kommen aber alte Strukturen wieder hoch. Mütter arbeiten Teilzeit oder gar nicht.Muss die Schule anders werden?

Der Schüler muss dort mehr unterstützt werden. Dazu brauchen wir aber unterschiedliche Professionen wie Psychologen in der Schule. Es ist ja oft nicht das Lernen an sich das Problem. Kinder beherrschen viele Grundlagen nicht, also z. B. wie man sich in einer Gruppe verhält.

Viele Migranten kommen aus autoritären Kulturen. Die Schule ist liberaler. Die Kinder kommen mit dem Widerspruch nicht klar. Gibt es Lösungen?

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In Berlin gibt es Stadtteilmütter, die in diese Familien gehen. Das Problem ist ja nicht nur die andere Kultur. Es sind auch die Abschottungstendenzen. Bei Schulproblemen gehen die Migranten oft nicht in die Schule, sondern bitten Freunde um Hilfe. Außerdem haben z. B. Türken traditionell eine andere Erwartung an die Schule. Diese soll Schulprobleme regeln. Bei vielen männlichen Migranten ist Bildung außerdem kein Thema. Sie definieren sich eher über den Konsum oder über ihren Körper als über die Schule.

Laut Studie fühlen sich Lehrer durch zentrale Tests gestresst. War die Einführung etwa der Bildungsstandards sinnvoll?Eigentlich sollten diese ein Test der Schulen sein. In der Praxis fließen die Ergebnisse in die Noten ein. Das ist sicher nicht gut. Die Lehrer beklagen, dass Tests Bürokratie verursacht. Sie wollen deshalb kleinere Klassen. Auch die Eltern wünschen sich diese. Dabei sagen die Bildungsforscher, dass die Klassengröße sich gar nicht auf die Leistung auswirkt. Und die Bildungspolitiker schließen sich ihnen natürlich gerne an.

Die Lehrer sind also frustriert?

Ja, weil viele Reformen über die Köpfe der Lehrer und Eltern hinweg passieren.