Nobelpreis: Peter Handke spricht von "Brudermord" und wird boykottiert
Von Georg Leyrer
Peter Handke verlässt die Niemandsbucht und fliegt nach Stockholm - und die Woche vor der Nobelpreisverleihung wird gefüllt sein mit Debatten und Repräsentationsterminen. Handkes proserbische Position im Balkankrieg und sein öffentliches "Herumeiern" insbesondere um das Massaker von Srebenica stehen seit der Nobelpreis-Bekanntgabe im Zentrum scharfer Kritik, die jetzt noch anschwellen wird. Erst am Montag hat eine externe Mitjurorin der Schwedischen Akademie diese verlassen - unter Protest der Entscheidung für Handke.
Dieser Protest hat Handke auch in Stockholm eingeholt. So bleibt der ehemalige Sekretär der Schwedischen Akademie, Peter Englund, der Nobelpreiswoche fern - aus Protest gegen die Kür Handkes, berichtet Dagens Nyheter. Die Verleihung an Handke zu feiern wäre "Heuchelei", sagte Englund der Zeitung.Der 62-jährige Schriftsteller hatte in den 1990er Jahren für die schwedische Tageszeitung vom Balkankrieg berichtet. Englund platzierte seine Botschaft wenige Stunden vor der offiziellen Nobelpreis-Pressekonferenz mit Handke in Stockholm.
In einem Interview mit dem Sender SVT sprach Handke indes von einem "Brudermord" am Balkan. Er wolle das Wort "Genozid" nicht verwenden, sagte er. Etwas "in Relation zu setzen, heißt aber nicht, etwas zu leugnen". Und wenn Menschen "Genozid" sagen - "warum nicht? Dann ist das so. Ich will mich darin nicht verlieren."
Der Zeitplan der Nobelpreiswoche
- Am Freitag feiert Handke seinen 77. Geburtstag - und wird in Stockholm das erste Mal auftreten: Um 13 Uhr ist eine Pressekonferenz der Literaturnobelpreisträger 2018 (Olga Tokarczuk) und 2019 (Handke) angesetzt.
- Am Samstag (17 Uhr) hält Handke in der Schwedischen Akademie seine Nobelpreisrede. Diese wird per Livestream auf Nobelprize.org ausgestrahlt. In der Rede wird er aus seinem 1982 uraufgeführten dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ zitieren sowie eine Andeutung jener „zwei, drei Geschichten, die mir vielleicht noch vergönnt sein werden“, geben."Es geht dabei aber auch um die Toten. Die Toten der Familie werden mich bis zu meinem eigenen Hinscheiden auf den Weg bringen und auf dem Weg bleiben lassen."
- Am Dienstag dann erhält Handke im Stockholmer Konzerthaus (16.30 Uhr) offiziell den Preis.
Für die kommenden Tage ist u.a. ein Protest der "Mütter von Srebenica" in Stockholm angekündigt.
Die Volten der Debatte
Eines hat die Akademie jedenfalls mit der Kür Handkes geschafft: Es redet niemand mehr über den #MeToo-Skandal, an dem die Akademie zuletzt fast vollständig zerbrochen ist. Viele Menschen am Balkan fühlen sich von der Wahl verletzt und beleidigt, auch manche Autorenkollegen Handkes haben die Entscheidung scharf und anhaltend kritisiert.
Es geht im Kern darum, dass außerliterarische Aussagen Handkes zum Balkankonflikt eine unhaltbare Schlagseite in Richtung der serbischen Position haben, dass Handke zwar später das Massaker von Srebenica verurteilte, aber lange Zeit darüber im Vagen blieb, und dass er u.a. am Grab von Slobodan Milosevic eine Rede hielt.
Die in all dem entstandenen Bilder - insbesondere das Foto am Grab - wirken auf die öffentliche Debatte schneller und nachhaltiger als die rumorenden, langen Atem in der Rezeption erfordernden Ausdifferenzierungen, die Handke in seinem Werk vorgenommen hat.
Die Nobelpreis-Akademie hat zuletzt sogar einen Verteidigungsbrief an Verleger über ihre Entscheidung ausgeschickt. Die Akademie glaube, dass "in einer offenen Gesellschaft Platz für unterschiedliche Meinungen über Autoren und ihr Werk" sein müsse, hieß es darin. "Wir streben einen respektvollen Austausch an, ungeachtet scharf auseinandergehender Ansichten in wichtigen Angelegenheiten."
Der Nobelpreisträger selbst hat keine Lust, darüber zu reden: Handke hat inzwischen mehrfach Journalisten für dementsprechende Fragen gerügt und die APA aus seinem Haus in Paris geworfen.
Handke zieht sich lieber auf eine Literaturdebatte zurück (der KURIER hat nachgelesen, was Handke bei seinen Reisen in Serbien wirklich schrieb).
Soviel aber sagte er dann doch: Er habe nie „irgendeine Sympathie“ für den serbischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic ausgedrückt, auch nicht bei dessen Begräbnis, sagte er der Kleinen Zeitung. "Es gibt nichts Fruchtbareres, als sich entschlossen zu verirren. Aber wenn das jemand zu Jugoslawien sagt, dann haue ich ihm links und rechts eine herunter. Ich habe mich im Leben ordentlich verirrt, manchmal auch mit Vorsatz, aber im Schreiben nicht.“
Am Online-Pranger
Andererseits wuchs im Laufe der Debatte auch bei einigen Kulturschaffenden das Erstaunen, wenn nicht die Sorge über die gnadenlosen Aussortierungsbestrebungen, die sich gegen diesen auf vielerlei Hinsicht unangenehmen Dichter richteten. Dessen Unangenehmheit hat seine Karriere von Anfang an fundiert - und wurde bei Kritik an Literaturbetrieb oder Publikum abgenickt.
Insbesondere die Onlinediskussion hat, wie deutsche Medien rasch festhielten, einen beklemmenden Mangel an Ambivalenztoleranz: Handke steht hier am Pranger eines Gerichtshofes, der nur Extremurteile kennt - und die Debatte verrantte sich auch in genau der Art von Extremsicht, die Handke selbst vorgeworfen wird. Auch wurde die aus dem gefühlten Elfenbeinturm herausdringende Literatur-Debatte rasch zum Betätigungsfeld einiger, die auch sonst ein Unbehagen an der Kultur verspüren.
Zu erwarten ist demnach eine lautstarke Woche - und ein Abebben der Debatte nach der offiziellen Verleihung. Für die Schwedische Akademie jedoch geht dann die Aufbauarbeit von neuem los - und der nächste Liuteratur-Nobelpreis wird unter noch stärkerer Aufmerksamkeit stehen, als dieser.