Kolumnen

Rabinowich geht essen: Ein Borschtsch wie Schneewittchen

Erinnerungen kann man lukullisch speichern. Geschmack und Duft lassen lang vergangene Zeiten wieder lebendig werden. Manche Kindheitserinnerung korrumpiert mit ihrer nostalgischen Note zwar ein wenig – man denke an chemisch knallrote Lutscher, die einem im Alter von 4 Jahren die Offenbarung aller Raffinesse

erschienen sind und die in Wiederholungstat ganz herausragend grindig schmecken. Aber manches Mal ist diese solcherart lebensmitteltechnisch getriggerte Erinnerung der Gegenwart äußerst zuträglich. Zum Beispiel Im Elviras, einem gemütlich eingerichteten ukrainischen Lokal in der Seidlgasse, kann man einerseits der russisch-ukrainischen Freundschaft frönen und andererseits in würziger Nostalgie schwelgen.

Die Farbe Rot zieht sich verlässlich durch den Laden: in den Lampen, in den Speisen, in den Mustern der Bankbezüge. Der rote Borschtsch, gekrönt von weißem Rahmklecks, ist ein modernes Schneewittchen. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, das Schwarzbrot dazu– nun ja, nicht ganz Ebenholz.

Der Geschmack ist der Suppe meiner St. Petersburger Großmutter höchst artverwandt und treibt Tränen der Rührung ins Auge.

Dieses Auge aber ruht recht schnell auf anderer Vorspeise: nämlich dem sanften Salat Olivier, klein gehacktes Gemüse mit Ei und Mayonnaise, das auch bei uns zu Hause bei keinem russischen Neujahrsfest fehlen durfte. Der festlich geschmückte Tannenbaum blitzt ins Bewusstsein, die lange, mit weißem Tischtuch gedeckte Tafel, die riesige Salatschüssel, die Kerzen und die Sektflaschen.

Man lehnt sich schon etwas erinnerungsbeschwert an die schön gemusterte Rücklehne der Sitzbank, denkt an die rundliche, in ähnliche Stoffe gekleidete Oma und nimmt den nächsten Anlauf in die Vergangenheit: die typische Mahlzeit unbeschwerter Ferientage, ein Haufen Pelmeni im braunen Tonschüsselchen. Bei diesen Pelmeni handelt es sich um eine Abart der Ravioli, kleine Fleischtäschchen aus hellem Teig, mit geschmolzener Butter großzügig getränkt und mit gerösteten Zwiebeln verfeinert.

Der Geschmack ist – nun ja, für den Gaumen einer nunmehr Erwachsenen ehrlich gesagt etwas simpel, aber er führt verlässlich direkt zurück in die Kindheit.

Wenn man alles das bewältigt hat, macht sich ein gewisses Völlegefühl breit, das auch der kühle, herbe Kvas nicht mehr niederzuringen vermag.

In der Getränkekarte ist er als „Brau-Limonade mit Malzgeschmack“ definiert– was grauenhaft klingt aber gut schmeckt.

Man versenkt sich im Abschluss endgültig mit einer Torte, die ebenfalls eine Entsprechung in der russischen Küche hat: jene heftig hoch geschichtete Torte „Napoleon“, die dünnen Teig auf nicht gerade leichter Creme kombiniert.

Wenn die letzten Reste verschlungen sind, möchte man am liebsten eine von kräftigen Menschen getragene Sänfte auf schwachem Körper kombinieren. Dieser Wunsch wird aber nicht erfüllt. Aus dem Alter, heimgetragen zu werden, ist man trotz aller Nostalgie gnadenlos und endgültig heraus.

Elvira’s Seidlgasse 39, 1030 Wien,  01/ 8908081 Mo–Fr: 10 bis 23 Uhr,  Sa 12 bis 23 Uhr elvirasrestaurant.at