Kolumnen

Johannas Fest: Essen aus der Geisterküche

Jahrelang logierte eine Etage unter uns eine WG. Acht junge Leute, die jeden Abend vegetarisch kochten und miteinander aßen. Irgendwann kamen sie in die Prüfungsphasen, ihre Küche blieb kalt und es klingelte fast allabendlich ein Pizzabote, häufig irrtümlich an unserer Torsprechanlage. Ich nahm die neue Usance mit Verwunderung zur Kenntnis. Schließlich hatte ich selbst bis zu diesem Zeitpunkt noch nie Speisen-Lieferservices in Anspruch genommen. Entweder wir kochten selbst, waren bei Freunden eingeladen, oder gingen ins Restaurant.

Beim Gassi-Gehen mit dem Hund avancierten die orange oder giftgrün gekleideten Radlfahrer mit ihren Riesen-Rucksäcken zu meinen Feindbildern. Das Überqueren der Straßen wurde zunehmend zum Hochrisiko: Die Lieferservice-Boten schienen strampelnd ständig Geschwindigkeitsrekorde brechen zu wollen, wenn sie nicht gleich mit E-Bikes – schneller als die Polizei erlaubt – über den Fahrradweg preschten.

Vor zwei Jahren etwa begannen auch wir, Essen zu ordern; immer nur das, was wir selbst nicht so gut hinkriegen, nämlich Asiatisches und immer nur von Restaurants, die wir kannten.

Ausgelieferte Wirte

Die Frequenz unserer Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen steigerte sich naturgemäß während des ersten Lockdowns. Mit fortschreitender Dauer wuchs schließlich das Fernweh. Und nach der anfänglichen „Wir-kochen- täglich-selbst-Euphorie“ stieg die Sehnsucht nach Exotik auf dem Speisezettel, nach dem Geschmack fremder Küchen, Gewürze und Aromen.

Mein Verhältnis zu den Fahrradboten ist inzwischen höchst ambivalent: Beim Gassi-Gehen betrachte ich sie nach wie vor als Gefahr. Wenn sie vor meiner Wohnungstüre die idealerweise noch dampfend heißen Speisen aus ihren Warmhalteboxen auspacken, sind sie die heiß ersehnten Freudenbringer kulinarischer Genüsse. Seit die Lieferservices auf „kontaktlos“ – das neue Qualitätsattribut schlechthin – umgestellt haben, lege ich das Trinkgeld für den Überbringer vor unsere Türe. Verdient haben sie es jedenfalls, müssen sie doch die Mahlzeiten vier Stockwerke ohne Lift hinaufbefördern.

Essen-Zustellung ist gefragt wie nie zuvor. Gerade kleinere Betriebe, die keine eigene Website, kein elektronisches Bezahlsystem und schon gar keine Biker-Flotte haben, sind den Dienstleistern, die das Essen von A nach B bringen, geradezu ausgeliefert. Aber wenn Wirte dafür dreißig Prozent des Endverbraucher-Preises an das Lieferservice abgeben, bleibt nach Abzug der Steuern, der Miete, des Wareneinkaufs und der Personalkosten nicht mehr viel übrig.

Von den USA ausgehend erreicht Europa nun ein neuer Trend, der als das Gastro-Modell der Zukunft gehandelt wird: Verschiedenste, auch renommierte Restaurants tun sich zusammen in einer „Ghost Kitchen“. Dort werden vom Wiener Schnitzel über den Tafelspitz bis zur Peking-Ente deren jeweilige Klassiker originalgetreu nachgekocht und anschließend zum Gast nach Hause gebracht.

Alles was es braucht, ist eine große zentrale Küche, einen eigenen oder externen Lieferdienst, einen funktionierenden Online-Auftritt und ein spannendes Speisen-Angebot. Eine leistbare Methode auch für Start-ups, die gar nicht erst ein reales Restaurant eröffnen müssen.

Ob wir einem solchen unser Vertrauen schenken würden? Einen Versuch wäre es wert, zumindest jetzt, wo man sich ohnehin in keinen Gastraum setzen kann!