Kolumnen

Das Reh und der Abschied

Das Reh lag da, mitten auf dem Weg. Es hob den Kopf und schaute mich an. Mit einem Blick, der so ruhig war, dass ich erst recht erschrak.

„Steh!“, sagte ich zu Daria, und hielt die Leine ein wenig fester. Das wäre gar nicht nötig gewesen. Daria stand bereits. Direkt neben mir. Sie schien, ebenso wie ich, wahrzunehmen, dass hier etwas vor sich ging, das wir nicht alle Tage erleben. Wer viel in der Natur ist, sieht viel. Daria und ich treffen Schlangen, Hasen, Rehe ... und alle flüchten, meist sehr rasch.

Das hier war anders. Das Reh lag da und schaute uns an. In seinem Blick weder Angst vorm Hund, noch Angst vorm Tod. Ich weiß nicht wie, aber ich spürte in der Sekunde, dass das Tier dabei war zu sterben. Sein Kopf, der schlanke Hals und die Brust sahen unversehrt lebendig aus, doch im hinteren Rückenbereich sah ich viel zu viele Fliegen auf einmal hochfliegen. Panik stieg in mir auf. Ich wollte helfen. Und wusste nicht wie. Das Handy hatte kein Netz, ich konnte niemanden verständigen, bloß meinen Standort speichern. Das tat ich.

Daria stand still neben mir. Ich hatte den Eindruck, sie kommuniziere mit dem Reh, während ich hektisch Pläne schmiedete, wo es nichts zu schmieden gab.

In dem Moment kam mir ein Mann in den Sinn, den ich in Sri Lanka beobachtet hatte, wie er mit einem sterbenden Hund sprach. Ich fragte damals: „Können wir ihn nicht retten?“ Der Mann erwiderte sanft: „Das tue ich. Ich sage ihm, dass er nicht allein ist und nicht allein stirbt.“ Und so sprach ich laut mit dem Reh, sagte ihm, dass es nicht allein war und nicht allein sterben werde. Und dankte allen guten Geistern, als das Reh seufzend den Kopf zur Seite legte und sich ausruhte.

Daria und ich drehten um und nahmen einen anderen Weg ins Tal, von dort rief ich einen befreundeten Jäger und die Gemeinde an. Alle reagierten so hilfreich, dass es mich rührte, wie viel ein einzelnes Wesen heute noch zählen darf.

Kurz darauf fand der zuständige Jäger das Tier. Es war völlig dehydriert und dabei, an fortgeschrittenem Darmverschluss zu sterben. Der Mann beendete das Leiden mit einem beherzten Handgriff – und trug das tote Reh ins Tal. Daria und ich gingen am nächsten Morgen wieder hinauf an die Stelle. Daria blieb sofort stehen. Und ich sagte dem Reh noch einmal, dass es nicht allein gewesen und nicht allein gestorben war.