Drag-Queen-Lesung: "Jeder Villacher Fasching war traumatisierender"
Angespannte Stimmung herrschte Sonntagfrüh vor einer Kinderbuchlesung von Drag Queens (siehe Infobox unten) in der Türkis Rosa Lila Villa in Wien-Mariahilf, dem seit 1982 bestehenden, größten sozialen Zentrum der Wiener LGBTIQ-Szene.
Im Vorfeld der Veranstaltung hatte sich die Stimmung immer weiter aufgeheizt. Unterschiedliche Gruppierungen wie die rechtsextremen Identitären, christliche Fundamentalisten, aus der Coronaleugner-Szene bekannte Verschwörungstheoretiker, sowie die Freiheitliche Jugend agitierten über soziale Medien und Messenger-Dienste wie Telegram gegen die Veranstaltung und riefen zu Demonstrationen auf.
Linke Gruppen riefen daraufhin ihrerseits zum Schutz der Veranstaltung auf. Insgesamt wurden bei der Polizei sieben Kundgebungen im Umfeld der Lesung angemeldet. Einschreiten musste sie trotz insgesamt bis zu 1.000 Demonstrantinnen und Demonstranten nicht.
Solidaritätsdemo deutlich in Überzahl
Vor der Villa selbst trennte die Polizei mit zwei Sperrketten die Kundgebungen voneinander, Hunderte Beamte warteten in der Umgebung in Bereitschaft. Vorerst war diese Mannstärke freilich nicht nötig, etwa 100 Gegendemonstrantinnen und -demonstranten standen auf der Wienzeile bis zu 700 Unterstützerinnen und Unterstützern gegenüber, die zusätzlich auch unabhängig von den anwesenden Polizeikräften den Zugang zur Rückseite des Gebäudes in der Mollardgasse kontrollierten.
Bis auf Sprechchöre der Solidaritätsdemo war die Stimmung gegen 9.30 Uhr noch ruhig, die Gegenseite beschränkte sich auf das Halten von Schildern mit der Aufschrift "Villa Vida zusperren".
Nachdem sich die Gegendemo mit Marschmusik aufgewärmt hatte, begannen um 10.30 Uhr diverse Ansprachen. Aus der Villa wurde währenddessen die Wienzeile mit Gloria Gaynor und Tanzmusik beschallt. Durchsetzt wurde die Musik mit Megafon-Durchsagen wie "Alle Nazis haben kleine Spatzis", die auch die Polizei vereinzelt zum Schmunzeln brachte.
So blieb es auch bis nach dem Ende der Lesung um 12.30 Uhr: Warnende Ansprachen bis hin zu kruden Verschwörungstheorie, Österreich-Fahnen und auch ein Hitlergruß auf der einen, Partystimmung, Regenbogenfahnen und einzelne Sonntagvormittags-Bierdosen auf der andere Seite. Regenbogenfahnen hingen übrigens auch aus mehreren Fenstern des Nebenhauses der Türkis Rosa Lila Villa.
"Überwältigt von Unterstützung"
"Wir stehen als breites Bündnis gegen diese Attacken und kämpfen für eine von Geschlechterzwängen befreite Gesellschaft", betonte Marty Huber, langjährige Villa-Aktivist:in und Mitbegründer:in von Queer Base. "Wir sind überwältigt von der starken Unterstützung und der großen Solidarität. Gerade diese breite Unterstützung zeigt, wie wichtig es ist, sich aktiv für Rechte von transgender Personen und Drag Queens einzusetzen."
Die An- und Abreise der rund 40 Besucherinnen und Besucher der Lesung funktionierte reibungslos, beim Eingang glichen Ordnerinnen und Ordner dann die Namen mit einer Liste ab, für den Fall der Fälle standen zwei Polizisten zur Absicherung bereit.
"Nie überlegt, nicht hinzugehen"
Auch die rechten Proteste konnten die Familien nicht vom Besuch abhalten. "Es kann nicht die Konsequenz sein, dass die Einschüchterung funktioniert", sagte eine Mutter; "wir haben nie überlegt, nicht hinzugehen" ein Vater.
Verständnis für die rechten Proteste war von dieser Seite klarerweise auch nicht zu erwarten. "Mein Kind muss eher vor denen da drüben beschützt werden", sagte Vater Sebastian mit Blick auf die Gegendemo.
Drinnen inszenierte Künstlerin Freya van Kant im roten Glitzer-Tüllkleid und auftoupierter blonder Perücke eine Märchengeschichte, wie man sie aus dem klassischen Erlebnis-Kindertheater kennt, samt Tanzeinheit und Fechtrunde mit Schwimmnudeln - nur dass diesmal die Prinzessin den vom Drachen verschleppten Prinzen retten musste und nicht umgekehrt.
Einzigartigkeit und christliche Werte
"Hier wird nicht über Sex gesprochen. Hier geht es um Lieblingsfarben, um Lieblingskleidung und darüber was es bedeutet, einzigartig zu sein", betonte auch Organisator Stephane Magloire.
Bei den Drag-Queen-Lesungen würden Geschichten vorgelesen, in denen es darum gehe, man selbst zu sein und zu einem glücklichen Menschen zu werden, erklärte auch van Kant. "Das sind Geschichten, die jedem Kind gut tun", es gehe darin um Menschenwürde und auch um christliche Werte wie Nächstenliebe. Es sei sehr befremdlich, dass ein "rechter Mob", dessen einziges Ziel es sei, Zwietracht zu sähen und Angst zu verbreiten, gegen Derartiges mobilisiere.
Van Kant hatte im Vorfeld angesichts der Gewaltdrohungen im Internet und von Medienberichten, in denen gegen die Community polemisiert worden sei, kurz über eine Absage der Veranstaltung nachgedacht. Es sei aber schnell klar gewesen, dass es hier um etwas Wichtiges gehe. "Die Angstmacher-Taktik hat nicht gefruchtet."
Auch die zur Veranstaltung angemeldeten Eltern hätten einhellig rückgemeldet, dass es ihnen trotz der Demo wichtig sei, zur Veranstaltung zu kommen. "Wir stehen auf als Community", so Magloire. Van Kant zeigte sich nach der Veranstaltung mit Blick auf die Solidaritätsveranstaltung zufrieden. "Am heutigen Tag hat die Wiener Gesellschaft gezeigt, wie tolerant und bunt sie ist."
"Wir waren schon ein paar Mal bei solchen Lesungen. Niemanden hat es interessiert. Und jetzt wird es halt instrumentalisiert, damit man Queerfeindlichkeit ablassen kann", kommentierte auch ein anderes Elternpaar die Proteste nach dem Ende der Veranstaltung recht lapidar.
Sie waren jedenfalls zufrieden mit ihrem Sonntagsausflug: "Es war großartig. Die Kinder hatten einen Spaß und wir haben uns gefreut, weil es eh so schwierig ist, am Sonntag lustige Sachen für Kinder zu finden. Und als Kind, das am Land aufgewachsen ist, muss ich sagen: Jeder Villacher Fasching war traumatisierender."
Wie dieses Mal lasen die Drag Queens auch bei vergangenen Lesungen dieser Art aus harmlosen Kinderbüchern zu Themen wie Toleranz oder Gleichberechtigung vor. Dennoch wurde im Vorfeld der heutigen Veranstaltung gegen vermeintliche "Perversionen", "Frühsexualisierung", "Geschlechterverwirrung" und die "endgültige Zerstörung junger Kinder" durch die "Verstümmelung des menschlichen Körpers" mobil gemacht - Gewaltaufrufe in den Kommentaren inklusive.
Proteste von FPÖ und ÖVP gegen Drag-Queen-Lesung
Auch zwei Gemeinderatsparteien schlossen sich den Protesten an. FPÖ-Stadtparteichef Dominik Nepp forderte Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) dazu auf, die Lesung zu untersagen, sprach von "linker Transgender-Propaganda" und einer "inakzeptablen Frühsexualisierung von Kleinkindern".
Sein ÖVP-Pendant Karl Mahrer beklagte wiederum die politische Instrumentalisierung von Kindern. "Hier geht es keineswegs um unschuldige Lesungen. Kinder sollen in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert werden", sekundierte ÖVP-Gemeinderätin Caroline Hungerländer. Beide Parteien lieferten keine Belege für diese Behauptungen.
Drag Queen
Der Begriff bezeichnet Männer, die sich aus künstlerischen oder humoristischen Gründen als Frauen verkleiden - oft mittels schriller, bunter Kostüme und aufwendigem Make-ups. Drag Queens sind keineswegs notwendigerweise transgender Personen, ihre psychologische Geschlechtsidentität kann sich also durchaus mit ihrem biologischen Geschlecht decken. Mit anderen Worten: Sie können eine Frau darstellen, sich aber dennoch als Mann definieren.
LGBTIQ
Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen. Sie alle eint, dass sie ein gesellschaftliches Wertesystem, in dem ausschließlich das männliche und weibliche Geschlecht sowie eine heterosexuelle Beziehungsform als normal erachtet wird, ablehnen. Das Symbol der Bewegung ist der Regenbogen und soll die menschliche Vielfalt abbilden.
Vizebürgermeister Wiederkehr: Gezielte Desinformation
Neos-Vizebürgermeister und Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr verurteilte die Instrumentalisierung einer Kinderbuchlesung durch "extreme Rechte und extreme Konservative" mit Hilfe von "gezielter Desinformation und unzulässiger Vermischung".
Eine Veranstaltung im Zeichen von Toleranz und Respekt zu stören, gefährde die Sicherheit von Kindern und sei ein Zeichen von Intoleranz - das habe in Wien "keinen Platz". An die Gegendemonstranten richtete Wiederkehr via Twitter den Appell, "sich zurückzunehmen", und von der Polizei erwarte er, "dass die Veranstaltungsteilnehmer:innen, allen voran die Kinder, umfassend geschützt werden".
Keine Schutzzone vor Türkis Rosa Lila Villa
Angesichts der Proteste gegen die Veranstaltung hatten Aktivistinnen und Aktivisten, Grüne und SPÖ eine Schutzzone vor der Türkis Rosa Lila Villa gefordert, um den Kindern und ihren Eltern die sichere An- und Abreise zu sichern. Die Landespolizeidirektion Wien sah jedoch keine Veranlassung für ein solches Platzverbot.
Eingerichtet wird lediglich ein mit Tretgittern gesicherter sogenannter Schutzbereich, der laut Versammlungsgesetz vorgeschrieben ist, um einen Mindestabstand zwischen gleichzeitig stattfindenden Versammlungen zu gewährleisten. Die Linke Wienzeile wird ab etwa sieben Uhr früh gesperrt.
Eine Entscheidung, die zum Teil für Unverständnis sorgte. "Ein Blick in die einschlägigen rechtsextremen Telegram Gruppen genügt, um zu sehen, was angesichts des Hasses und der Hetze gegenüber LGBTIQ+ Menschen für ein Gefährdungspotential da schlummert. Es ist fahrlässig, nicht zu erkennen, dass die Polizei hier einen klaren Schutzauftrag gegenüber schutzbedürftigen Gruppen hat", sagte etwa die Grüne Gemeinderätin Viktoria Spielmann.
Antifaschistische Gruppen riefen dazu auf, zahlreich zur Unterstützung zu erscheinen und so selbst eine "antifaschistische Schutzzone" zu organisieren.
Angriffe in der Vergangenheit
Die Türkis Rosa Lila Villa war erst vor Kurzem Angriffsziel, als mutmaßliche Rechtsextreme in der Nacht auf den 29. März auf ein Baugerüst kletterten, ein Plakat mit einer gegen die Community gerichteten Parole befestigten und hunderte Flugblätter verteilten.
Auch Drag-Queen-Lesungen waren bereits im Visier von mutmaßlich Rechtsextremen: Im Vorjahr wurde vor einer Lesung in einer Wiener Bücherei im Rahmen des Pride-Monats der Eingang zugemauert. Und erst vor wenigen Wochen musste eine Lesung vor einer Buchhandlung im 6. Bezirk unter Polizeischutz über die Bühne gehen.