Chronik/Welt

Jugendliche bewaffnen sich in Großbritannien mit Messern

„Es ist eine Epidemie.“ Erin Sanders-McDonagh, Senior Lecturer für Kriminologie an der Universität Kent, spricht nicht von Corona, sondern von Messer-Verbrechen (Stabbings) in Großbritannien, die auch 2021 wieder in die Schlagzeilen kommen.

So etwa kam es am Wochenende bei einer Reihe von separaten Stechereien in London, von Kilburn im Norden der Hauptstadt bis Croydon im Süden, zu zwei Toten, beide erst 22 Jahre alt, und mindestens 14 Verletzten. Die Polizei nannte das neuerliche Aufflammen der Messergewalt „abscheulich“.

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Das Statistikamt berichtete kürzlich für die zwölf Monate bis September von 47.119 Straftaten mit Messern oder scharfen Objekten in England (ohne die Region Greater Manchester) und Wales. Und dabei gab es einen leichten Rückgang der Verbrechen wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr. Nur Messer-Tötungsdelikte stiegen um 12 Prozent auf 248.

18.700 Raubüberfälle

Rund 21.900 Angriffe mit Verletzung und mehr als 18.700 Raubüberfälle wurden gezählt; 29 Prozent aller Delikte mit Stichwaffen fanden in London statt. Im Vergleich zu den 12 Monaten bis September 2014 sind Messervorfälle um 83 Prozent angestiegen.

Patrick Green, Chef des Ben Kinsella Trust, der für Aufklärung und Kampagnen gegen Messergewalt bekannt ist, warnte, dass man ohne Corona von einem Rekord sprechen würde und jetzt für das Ende des dritten Lockdowns vorplanen müsse, um zu „verhindern, dass die Gewalt eskaliert“.

Geld für abgegebene Messer

England und Wales bieten, bevor ein Verbot des Besitzes bestimmter Arten von Angriffswaffen in Kraft tritt, seit 10. Dezember drei Monate lang Leuten, die ihre Messer der Polizei übergeben, Bargeld – solange der Gesamtwert mindestens 30 Pfund (34 Euro) ausmacht. So gibt es etwa 10 Pfund für Zombie-Messer, so genannt, weil sie an Klingen aus Horrorfilmen erinnern.

„Keine schlechte Idee“, aber sie wird die tieferen Ursachen, „Armut und soziale Ausgrenzung“, nicht lösen, warnt Sanders-McDonagh und prangert „10 Jahre soziale Sparmaßnahmen“ unter den Tories an.

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„Wohlfahrtsstaaten wie Österreich geben sozial Schwächeren genug zum Leben“. Gewalt sei ein „Symptom für breitere soziale Missstände“ und Unruhe, erklärt auch Luke Billingham vom Londoner Jugendzentrum Hackney Quest, Co-Autor eines Berichts über Jugend-Gewalt, dem KURIER.

Benachteiligte Jugendliche in Großstädten, denen Perspektiven fehlen, werden oft kriminell – etwa durch Drogenhandel und in Gangs. Vor allem männliche 16- bis 24-Jährige greifen dann zu leicht verfügbaren Messern, sagt die Expertin.

„Oft wird ignoriert, dass Stechereien auch mit häuslicher Gewalt ansteigen“ und nicht nur ein Problem von Minderheiten seien, die unter Armen überrepräsentiert sind.

Mamas Steakmesser

„Viele Kinder trugen schon früh Messer, manche mit 10 oder 11, weil sie Gewalt sahen und Angst hatten“, erzählt sie. „Sie verlassen das Haus mit Messer so wie wir mit Handy und Schlüssel.“

Zuerst sind es Steakmesser der Mutter. Später kaufen sie oder ältere Freunde online Macheten. Experten beklagen, dass die Behörden oft auf harte oder lachhafte Maßnahmen setzten. So bot Nottingham Opfern häuslicher Gewalt abgestumpfte Küchen-Messer an. Andere riefen nach einem Verbot von „U.K. Drill“-Musik, die oft Gewalt thematisiert. Und die Polizei zeigt gerne „seltsam freudig“ Fotos beschlagnahmter Riesenwaffen, was manche aus Angst erst recht zum Messer greifen lässt.

Viele Experten setzen auf „Gewaltverringerungseinheiten“, die sich in Schottland bewährt haben. Behörden, Polizei, Gesundheits-, Bildungs- und andere Experten gehen hier Ursachen von Gewalt als Problem der öffentlichen Gesundheit gemeinsam an. Billingham sagt, auch Hackney Quest arbeitet ähnlich, „um die ganze Familie zu unterstützen, wenn ein junger Mensch Probleme hat“.

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