Chronik/Österreich

Entschleunigen: Wenn die Seele nicht mit uns Schritt halten kann

„Die U-Bahn, das sind die zehn Minuten, wo man sich die Leute anschaut.“ Ein Satz mit Seltenheitswert. Gesagt hat ihn der Dichter und Architekturexperte Friedrich Achleitner in einem KURIER-Interview über die Orte seiner künstlerischen Inspiration im März 2015.

Schon damals war der Autor mit seiner Menschenbeobachtung in den öffentlichen Verkehrsmitteln eine Rarität, denn schon damals wurde mehr auf Handy-Displays als auf Mitmenschen geschaut. Heute wird um ein Vielfaches mehr auf kleine mobile Bildschirme gestarrt. Mit verheerenden Folgen, wie der Hirnforscher Manfred Spitzer sagt. Neben körperlichen Problemen – nicht zuletzt ausgelöst durch erhöhtes Risikoverhalten im Straßenverkehr – konstatiert Spitzer Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Depressionen, Stress. Die Sucht nach dem Smartphone und der permanenten Echtzeit-Kommunikation ist wissenschaftlich bestätigt und hat einen Namen: Nomophobie (No-Mobile-Phone-Phobia). Wie entkommen wir ihr?

Schlecht im Bett

Facebook ist schlecht im Bett“: Das steht auf einem T-Shirt, das Anitra Eggler, Autorin, Journalistin und Vortragende zum Thema digitale Entwöhnung auf Fotos trägt. Die Tipps, die sie zum Thema Handy-Enthaltsamkeit geben kann, klingen durchaus witzig, haben aber einen ernsthaften Kern. Schon der Weg zu Eggler ist ungewöhnlich. Sie hat „radikale E-Mail-Öffnungszeiten“ und öffnet ihr Postfach nur noch montags bis donnerstags – und das nur einmal am Tag. Wann? „Wenn ich kann und will.“ Um dem Digital-Wahnsinn zumindest während der Feiertage rund um den Jahreswechsel zu entgehen, rät sie zu strenger Selbstkontrolle: „Keine Mails checken. Entzugserscheinungen aushalten. Feststellen: Die Welt geht nicht unter, nur weil man per Mail nicht erreichbar ist.“

Die digitale Entschleunigung ist nur einer von vielen Stress-lass-nach-Wünschen, die wir um die Feiertage empfinden. Denn gerade zu Jahresende herrscht der Eindruck einer zunehmenden Geschwindigkeit, als wäre mit dem Jahr auch die Welt zu Ende. „Es ist, als würden wir von der Weltkugel herunterfallen, wenn wir nicht noch schnell alles erledigen“, beobachtet die Psychologin Christina Beran. Im „alten Jahr“ möchten wir möglichst viel abschließen, um dann neu und unbeschwert starten zu können. „Je mehr Menschen an solchen Gedanken beteiligt sind und je kollektiver ein solches Gefühl ist, umso mehr beeinflusst uns das. Deshalb kann man sich dieser Beschleunigung schwer entziehen“, betont Beran. Die Digitalisierung ist ein zusätzlicher Zeitfresser geworden. Besonders die Smartphones haben die Entwicklung vorangetrieben. „Wenn wir ein Tool oft verwenden, wird es eine Verlängerung von uns selbst. Ohne Smartphone sind wir kaum noch vorstellbar“, sagt Psychiaterin Beran.

Lieber ein Stromstoß

Dazu kommt: Nichts fällt uns so schwer wie das Nichtstun. Wir wischen und drücken auf unseren Displays herum, um beschäftigt zu wirken. So zogen es die Probanden einer Studie der University of Virginia vor, leichte Stromstöße über sich ergehen zu lassen, als einfach nur nachzudenken.

Aus dem Fenster schauen oder Tagträumen nachhängen wird zum seltenen Hobby. Statt zur Ruhe zu kommen, lauern wir dem nächsten Like, dem nächsten lustigen Tiervideo oder einfach einem neuen Aufreger auf: Der nächsten digitalen Belohnung. Den Auswüchsen der Digitalisierung Herr zu werden, ist eine kollektive Aufgabe, für die es eine große Lösung brauche, findet Beran. Frankreich etwa diskutiert das bereits auf breiter Basis, dort wurde im Juli ein Handyverbot in Schulen beschlossen. Und es gibt Unternehmen, die den Server von Freitag bis Montag abschalten, um den Mitarbeitern das darüber Nachdenken zu ersparen.

Reif für die Psychiatrie

Der Psychologe und Psychotherapeut Wolf-Dietrich Zuzan plädiert für mehr Eigenverantwortung: „Der Stress hat sich durch die Digitalisierung geändert, ist in Summe aber nicht mehr geworden. Die Menschen machen sich den Stress selbst, er ist selten allein von externen Faktoren abhängig. Das Handy kann nichts dafür, wenn wir ständig erreichbar sind.“ Zuzan bringt den Begriff „Fasten an Beteiligungen“ in die Diskussion. Wir sollten überlegen, was wir wirklich brauchen und wie wir uns abgrenzen können. Das gilt nicht nur für das digitale Thema. „Wer sich überall beteiligt, ist reif für die Psychotherapie.“ Anstatt sich von anderen in Besitz nehmen zulassen, sollten wir uns die Freiheit nehmen, Kontakte abzulehnen. „Setzen wir uns selber Grenzen. Sie machen uns das Leben schöner.“

Es ist gut, wie es ist

Freiwilliger Verzicht ist eine Möglichkeit, zu sich selbst zu kommen. Zwar ist dieser Tage oft die Rede von Besinnlichkeit, tatsächlich sind die Festtage für viele eine Zeit des Überflusses. Der Theologe und Philosoph Clemens Sedmak bringt zu diesem Thema den schwedischen Ausdruck Lagom ins Spiel. Lagom bedeutet „ganz genau genug“. Wer Lagom kennt, hat weniger Stress, denn er kennt den goldenen Mittelweg für so gut wie alle Lebenslagen. „Mäßigung hat etwas Befreiendes“, so Sedmak. Aber Mäßigung ist, wie wir wissen, auch unglaublich schwierig. Nicht umsonst werden Seelenratgeber à la „Suche den Frieden“ zu Bestsellern. „Zufrieden sein heißt, sein Leben gut zu finden, wie es ist und nicht, wie es sein könnte. Innerer Friede bedeutet, keine großen Rechnungen mit sich und der Welt offen zu haben. Das gibt innere Ruhe und Kraft“, sagt Sedmak.

Doch gerade der weihnachtlich verordnete Friede hat es in sich. Die Vorstellung, „endlich loszulassen“, wie wir das ja um die „besinnlichen Tage“ tun sollten, ist für viele schier unvereinbar mit dem Verwandtenauftrieb rund um die Feiertage.

Wir sind allerdings keineswegs verpflichtet, diesem Gruppendruck nachzugeben, erinnert Psychotherapeut Zuzan. Zur Illustration erzählt er die Geschichte eines Afrikareisenden, der mit Trägern unterwegs ist. „In der Mitte des Weges machen die Träger halt und der Reisende sagt: Warum geht ihr nicht weiter? Die Träger antworten: Wir wollen ja weitergehen, aber unsere Seelen sind noch nicht nachgekommen. Wir müssen auf sie warten.“

Zuzan bringt diese Geschichte gerne seinen Klienten als Beispiel für gelungene Abgrenzung näher. Nur wer Grenzen setze, meint er, sei auch bereit für wirkliches Genießen. „Wer in sich hineinhört und sich fragt, was tut mir gut und was nicht, gewinnt viel. Nicht zuletzt Lebensqualität.“ Wer es jedoch langfristig nicht schaffe, Grenzen zu setzen und einzuhalten, sei der ideale Burn-out-Kandidat. „Wir sollten uns immer bewusst sein: Beruflich ist niemand unersetzbar. Wer ständig erreichbar ist, verliert sich selbst.“

Wir stolpern häufig

Möglichst viel in die letzten Tage des Jahres hineinstopfen: Dass wir nicht alles auf einmal machen sollten, haben wir eigentlich schon in der Schule gelernt. Wir wissen, wie es geht, und machen trotzdem das Gegenteil. „Wir Menschen stolpern häufig über die eigenen Füße. Das Management unserer eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte überfordert uns oft“, sagt Zuzan.

Als Mahnung, vernünftig mit sich selbst zu haushalten, zitiert er den Psychiater Viktor Frankl: „Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen!“

So schalten Sie ab

Handyenthaltsamkeit  Autorin Anitra Eggler rät dazu, das Firmenhandy über die Feiertage im Büro zu lassen oder daheim in den Winterschlaf zu versetzen. Härtefälle geben das Firmenhandy beim Partner ab. Falls Firmen- und Privathandy dasselbe sind: Sämtliche Job-Apps löschen, aus Firmen-WhatsApp-Gruppen austreten. Auch für WhatsApp gibt es ein Autoreply, das man aktivieren kann. Wer Zeit schenken und genießen will, erteilt Handys Tisch- und Bettverbot. Auch der Fotomanie werden Grenzen gesetzt: Maximal zehn Fotos pro Tag, diese wenn, dann ungefiltert teilen.

Zenmeister Ein leichtes vor sich Hinarbeiten ist oft entspannender, als sich einfach auf die Couch zu setzen. „Zu versuchen, den Zenmeister im Lotussitz zu geben, macht auch Stress“, sagt Psychiaterin Christina Beran. Besser: Ein bisschen herumräumen, etwa eine Lade ordnen, Bücher umstellen oder Pullover den Farben nach ordnen. Aber nicht gleich den ganzen Kasten. Auch Kochen kann entspannen, es muss ja kein  Fünf-Gänge-Menü sein. Und  Haustieren beim Atmen zuschauen – schon die Höhlenmenschen wussten: Wenn die Tiere schlafen, droht keine Gefahr.

Besuche verschieben „Wer jemanden liebt, wird ihm auch den Rückzug erlauben“, sagt Therapeut Zuzan. „Man kann Freunde und Verwandte auch zu anderen Zeiten als zu den Feiertagen treffen.“ Lieber am Grundproblem  arbeiten, nämlich daran, dass wir Beziehungen über das Jahr schleifen und verkümmern lassen.

Löcher starren Wer den kalten Entzug vorzieht, versucht Löcher in die zu Luft starren. Auf YouTube findet man (wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeinte) Tutorials zum Thema „An die Decke starren“.