Warum vor 101 Jahren die staatliche Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde

Arbeitslosen-Demo in den 1930ern
Die Wirtschaftskrise und ein extrem kalter Winter haben Wien fest im Griff. Am 12. Februar 1914 machen sich 2.000 Arbeitslose aus allen Teilen der Stadt auf zum Schwarzenbergplatz. Geschlossen ziehen sie über die Ringstraße am Parlament vorbei zum Rathaus. „Aus dem Zuge hörte man wiederholt den Ruf: ,Wir haben Hunger!’“ So schreibt es die Illustrierte Kronen Zeitung einen Tag später. „Hier auf der Ringstraße, wo sonst nur Glanz und Pracht ins Auge fielen, wollten die Arbeitslosen den Reichen ihre Armut zeigen“, erzählt Gewerkschaftshistorikerin Marliese Mendel. Denn: Mit der Industrialisierung entstanden nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Massenarbeitslosigkeit.
Schicksale
Medel erzählt stellvertretend von einem Bäckergehilfen, der sieben Monaten lang keine Beschäftigung gefunden hatte, hinter Wirtshäusern weggeworfene Lebensmittel aus dem Müll fischte, seine Kleidung bei der Zimmerfrau versetzte und von ihr trotzdem vor die Tür gesetzt wurde. „Damals gab es keine Arbeitslosenunterstützung. Im Rahmen der Armenhilfe wurden Arbeitslose in ihre Heimatgemeinden abgeschoben – egal ob es dort Arbeit gab oder nicht.“ Dort sorgten Wohltätigkeitsvereine für sie oder sie kamen in Gemeinde-Armenhäusern unter. Die Polizei – für den sogenannten Schub, das Abschieben in die Heimatgemeinde, zuständig (ja, daher kommt der Begriff Schubhaft) – war völlig überfordert.
Jahrzehntelang hatte sich der Staat weggeduckt, hatte die Arbeitslosigkeit zum individuellen Problem erklärt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Definition: Der Arbeitslose war arbeitswillig, aber es gab keine Stellen. Unterstützung? Fehlanzeige. Also sprangen die Gewerkschaften in die Bresche, organisierten Arbeitsvermittlung und unterstützten ihre Mitglieder im Fall der Arbeitslosigkeit. Es reichte gerade zum Überleben.
Und der Staat?
1913 bemühte man sich um staatliche Unterstützung für die gewerkschaftliche Arbeitslosenfürsorge. Und stieß auf taube Ohren. 1914 wiederholten die Gewerkschaften ihren Vorstoß. Doch der Erste Weltkrieg beendete die Bemühungen und wurde gleichzeitig zum Treiber für die Absicherung der Joblosen: „Jetzt musste sich der Staat endgültig damit beschäftigen, dass es Arbeitslose gab“, sagt Mendel. „Kriegsgeschädigte wollten wieder eingegliedert werden, damit man sich die Renten ersparte. Man wusste, dass die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft eine Flut von Arbeitslosen bringen würde und wollte soziale Unruhen unbedingt vermeiden.“ Da zahlt man lieber Unterstützungen aus.
Prompt ging es mit Argumenten los, die man heute noch hört: Arbeitslose seien arbeitsunwillig und Sozialschmarotzer. Dabei war das erste Arbeitslosengesetz Österreichs (verabschiedet 1920, siehe Grafik oben) streng, sagt Mendel: „Wurde eine Stelle vermittelt, musste sie angenommen werden. Nach zwölf Wochen Arbeitslosigkeit konnte man in die Heimatgemeinde abgeschoben werden. Danach war man ausgesteuert.“
Politik verantwortlich
Gleichzeitig war ein massiver gesellschaftlicher Wandel im Gang, weiß die Sozialhistorikerin Irina Vana. „Die Überzeugung setzt sich durch: ,Ich habe in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, ich habe Anspruch auf Unterstützung. Denn: Das ist kein persönliches Versagen, sondern ein wirtschaftliches Problem, das dahinter steht.’“ Etwas das die Politik zu verantworten habe.
Umstritten
Trotzdem blieb das Gesetz während der ganzen Ersten Republik umstritten. Vana: „Es gab unzählige Reformen und ewige Streitereien darüber, ob in einem Beruf eine Stelle leicht oder schwer zu finden ist.“ Die Wirtschaftskrise machte den Diskussionen vorläufig ein Ende, die Finanzierung der Arbeitslosenunterstützung wackelte. Mendel: „Als dann die Austrofaschisten an die Macht kamen, wurden die Leistungen massiv gekürzt und ganze Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen“. Dem Faschismus war der Boden bereitet.
Doch das ist eine andere Geschichte.
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