Als halb Europa auf der Straße war

Rückkehr aus Mauthausen
Mit Digital Humanities globale Migrationsströme und persönliche Lebenswege nach 1945 visualisieren.

Zu Kriegsende vor 80 Jahren war Europa ein schwer verwundeter Kontinent; die Menschen geschunden und entwurzelt. Zwangsrekrutiert oder vertrieben, hatten Millionen ihre Heimat verloren und saßen nach 1945 zu Tausenden auch in Österreich fest. Fünf Prozent der Gesamtbevölkerung waren damals Flüchtlinge, darunter ausländische Zwangsarbeiter*innen, ehemalige KZ-Insass*innen, Kriegsgefangene, zivil deportierte Menschen – Scharen sogenannter Displaced Persons (DP), Menschen, die aufgrund der Kriegswirren fern ihrer Heimat lebten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder weiterreisen konnten. Sie alle wurden zunächst in Camps untergebracht. Eines der Größten war in Linz, wo 10.000 auf die Emigration warteten. 

Weltweit kam es damals zu gewaltigen Wanderungsbewegungen, die über viele Jahre von der IRO (International Refugee Organisation) und der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) gemanagt wurden. „Halb Europa war damals auf der Straße, und zwar meist zu Fuß. Die einen wollten heim, die anderen weiter, möglichst zu einem Hafen, von wo sie, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, in die Neue Welt ausreisen konnten. Diese Leute waren von Ländern wie Amerika, Australien, Kanada als Arbeitsmigrant*innen sehr gesucht“, sagt Kerstin von Lingen von der Universität Wien und deutet damit an, „dass die Migration damals von globaler Dimension war, und zwar „in einem weitaus größeren Ausmaß als heute“.

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Univ.-Prof. Dr. Kerstin von Lingen: Die Historikerin forscht am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien.

Digitale Unterstützung

Den großen transnationalen Verbindungen von Migrationsströmen nach dem Weltkrieg, die von österreichischen Displaced Persons-Lagern ausgingen, spürt die Wissenschafterin aktuell in zwei großen Forschungsprojekten nach: „Norms, Regulation and Refugee Agency“ und „Global Resettlement Regimes“. Dazu nutzt Kerstin von Lingen u. a. die Methode der Digital Humanities – ein Fachgebiet, das, grob gesagt, modernste digitale Anwendungen nutzt, um Forschungsfragen der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften in größerem Maßstab zu visualisieren. „Sehr schön lässt sich das etwa an dem Migrationsstrom von Österreich nach Paraguay der Jahre 1946/47 darstellen. Das Land hatte damals großen Bedarf an Ingenieuren, auch an Erntehelfer*innen in der Landwirtschaft. So erhielten auf einen Schlag 30.000 Menschen eine Einwanderungsgenehmigung.“ 

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Als bedeutsame Forschungsgrundlage dient dazu etwa die umfangreiche Datenbank der Arolsen Archives mit gut 12 Millionen Datensätzen, u. a. basierend auf Personalkärtchen, die von den Alliierten einst für jede Displaced Person angelegt wurden. Darauf sind neben einem Foto und Personendaten auch die jeweiligen Zwischenstationen und im Idealfall sogar der Zielort der Emigration notiert. Diese Karteikarten wurden mittlerweile digitalisiert und sind online verfügbar. „Durch die Visualisierung mittels Digital Humanities erkennen wir Trends, die wir sonst nicht sehen würden, zum Beispiel, dass in den ersten Nachkriegsjahren Lateinamerika die größten Einwanderungszahlen hatte, ab 1947 war es Kanada. Das hatte mit den Arbeitsmarkt-Erfordernissen der jeweiligen Länder zu tun“, so von Lingen.

Naturgemäß stößt die Historikerin im Zuge ihrer Recherchen auch auf unglaubliche Fluchtgeschichten und Biografien. „Wenn wir fallweise Kontakt zur Kinder- oder Enkelgeneration der Auswanderer aufnehmen, ist die Freude auf deren Seite oft sehr groß. Denn sie sind stolz auf ihre Großeltern oder Eltern, wenn sich diese in der neuen Heimat ein erfolgreiches Leben aufbauen konnten. Das sind schon besondere Momente unserer Forschungsarbeit.“ 

Frau am PC

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