Die Russen überschreiten die Grenze
Am 29. März 1945 überschreiten dann sowjetische Truppen bei Klostermarienberg im Burgenland die österreichische Grenze. Die West-Alliierten sollten erst einen Monat später nach Österreich vorrücken. Die Sowjets haben also einen Vorsprung.
Rasch stoßen sie nach Wien vor, das sie von 7. bis 13. April erobern. Inzwischen lässt Sowjetdiktator Josef Stalin nach Karl Renner suchen. Stalin kennt Renner aus früheren Tagen. 1913 hat Stalin, damals noch als bolschewistischer Agitator, ein Jahr lang in Wien gelebt (so wie gleichzeitig auch Adolf Hitler).
Renner soll eine provisorische Regierung bilden. Stalin glaubt mit Renner leichtes Spiel zu haben, weil er ihn für einen Opportunisten hält. Der führende Sozialdemokrat Renner, erster Staatskanzler und letzter frei gewählter Nationalratspräsident der Ersten Republik, ist 1938 für den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland eingetreten. Den Krieg hat Renner dann im niederösterreichischen Gloggnitz verbracht.
Starke Rolle der Kommunisten
Als ihn sowjetische Offiziere dort aufspüren, erklärt er sich sofort zur Zusammenarbeit bereit. Stalin will freilich die Kommunisten als führende Drahtzieher für die Zukunft Österreichs etablieren. Am 10. April landet ein sowjetisches Militärflugzeug auf dem Flughafen Wiener Neustadt. Es bringt die Spitzen der KPÖ zurück aus dem Moskauer Exil. Die KPÖ hat damit als erste Partei eine aktive Führung in Österreich.
Die Vertreter der beiden Großparteien aus der Ersten Republik, Sozialdemokraten und Christlichsoziale, müssen sich da sprichwörtlich erst finden. In der Ersten Republik waren die beiden Parteien Todfeinde gewesen. Nach sieben Jahren NS-Terror und sechs Jahren Weltkrieg sind beide Seiten aber geläutert und zur Zusammenarbeit bereit.
Zunächst beschließen am 14. April im Wiener Rathaus „Sozialdemokraten“ und „Revolutionäre Sozialisten“ die Gründung der „Sozialistischen Partei Österreichs“ SPÖ. Drei Tage später, am 17. April, wird im Wiener Schottenstift die „Österreichische Volkspartei“ ÖVP aus der Taufe gehoben.
Parteichef wird Leopold Figl. Der Niederösterreicher begann seine politische Karriere noch im faschistischen „Ständestaat“ der Christlichsozialen. Die Nazi-Zeit verbrachte er großteils in Konzentrationslagern. Figl und ÖVP haben ihre Wurzeln in der Christlichsozialen Partei aber sie bekennen sich unmissverständlich zu einer demokratischen freien Gesellschaft und sind zur Kooperation mit der SPÖ und KPÖ bereit. Damit steht der Bildung einer ersten provisorischen Regierung nichts mehr im Weg.
„Anschluss null und nichtig“
Die Verhandlungen dazu finden von 20. bis 27. April in einer Villa in Wien-Hietzing statt. Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt ist Österreich noch immer Kampfgebiet. Mehr als vier Fünftel des Territoriums sind noch in der Hand der Nationalsozialisten. Hier werden nach wie vor Todesurteile verhängt und vollstreckt.
Schließlich steht am 27. April 1945 die erste Regierung Österreichs unter der Leitung von Karl Renner. In Summe besteht sie aus 13 ÖVP-Mitgliedern, zwölf Sozialisten, zehn Kommunisten und vier Parteilosen. Am selben Tag noch beschließen die drei Parteien die „Unabhängigkeitserklärung“. Sie erklärt den Anschluss an Deutschland 1938 für „null und nichtig“ und verkündet die Wiederherstellung der demokratischen Republik Österreich im Geiste der Verfassung von 1920.
Zwei Tage später, am 29. April, feiern die politischen Repräsentanten des neuen Österreich im kleinen Sitzungssaal des Wiener Rathauses die Auferstehung des Landes. Als sich Renner und der Wiener Bürgermeister Theodor Körner im Anschluss daran ins Parlament begeben, jubeln ihnen Zehntausende Wienerinnen und Wiener zu.
Am selben Tag heiratet im Berliner „Führerbunker“ Adolf Hitler seine langjährige heimliche Geliebte Eva Braun; am Tag darauf begehen sie Selbstmord. Nach zwölf Jahren geht das „Tausendjährige Reich“ der Nazis zu Ende.
"Absolute Mehrheit" für die ÖVP
Bis im neuen Österreich die Regierung in Wien offiziell von allen Alliierten anerkannt wird, dauert es noch bis Herbst. Briten und Amerikaner halten Renner für einen Strohmann der Sowjetunion.
Bei den ersten Wahlen am 25. November 1945 gewinnt dann die ÖVP die absolute Mehrheit. Für die Kommunisten ist die Wahl eine Katastrophe: sie erreichen nur vier von den damals 165 Mandaten. Trotzdem sind sie in der neuen Konzentrationsregierung (ÖVP, SPÖ, KPÖ) von Bundeskanzler Figl vertreten. Und Renner? Er wird von National- und Bundesrat zum ersten Bundespräsidenten der II. Republik gewählt.
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