Michael Musalek über den Herbst: Das Ende als Anfang

Sommergespräch mit Michael Musalek.
Der Herbst gilt als melancholische Jahreszeit. Doch er ist auch ein Neubeginn. Und eine Einladung, dankbar zu sein.

Der Herbst ist die farbigste aller Jahreszeiten – und zugleich die melancholischste. Goldene Blätter, volle Körbe, das Licht, das alles noch einmal zum Leuchten bringt, bevor es still wird. Viele Menschen empfinden nun so etwas wie einen Herbstblues: Die Tage werden kürzer, das Licht schwindet, und mit ihm die Leichtigkeit. Es ist jene Zeit, in der sich Abschied und Neubeginn begegnen. 

Psychologisch betrachtet gilt der Herbst als Sinnbild der Vergänglichkeit. Das Ende des Sommers kann Traurigkeit und Nachdenklichkeit wecken – dieses spezielle Gefühl, wieder ein Jahr verabschieden zu müssen. Doch gerade darin liegt auch eine Einladung: loszulassen, sich von Altem zu trennen, damit Platz für Neues entsteht. Akzeptanz und Dankbarkeit sind die beiden Schlüssel, um mit diesem Übergang gut umzugehen. Ich persönlich halte viel vom „Enden“. Wenn wir wissen, dass unser Leben begrenzt ist, können wir es auch bewusst gestalten. Man stelle sich vor, es gäbe kein Ende – keine Jahreszeiten, kein „zu spät“. Was für eine lähmende Aussicht! Erst das Wissen um die Endlichkeit macht unser Dasein kostbar. Herbst heißt also auch: ernten, was gelungen ist, die Früchte einsammeln und sich an den Farben freuen, solange sie da sind.

Das, was bleibt

Natürlich kündigt der Herbst auch den Winter an. Aber wir wissen ebenso: Nach der Kargheit kommt der Frühling zurück. Dieses zirkuläre Wissen schützt uns vor Verzweiflung. Stattdessen können wir lernen, auf das Schöne zu schauen: auf das, was bleibt. Sei es ein gelungenes Projekt, eine Freundschaft oder die Lachfalten im Gesicht. Denn ja: Auch Gesichter sind wie Landschaften im Herbst. Man darf ihnen die gelebten Jahre ansehen, Spuren von Freude eingeschrieben. Glatte Ausdruckslosigkeit wäre ein so viel ärmerer Anblick.

Wichtig ist, eine Herbst-Melancholie nicht mit Depression zu verwechseln. Melancholie ist ein starkes, tiefes Gefühl – schmerzhaft, aber auch kreativ und sinnstiftend. Depression hingegen ist eine Krankheit, geprägt von Antriebslosigkeit und Freudlosigkeit. Dass im Herbst beides häufiger vorkommt, liegt am Licht: Je kürzer die Tage, desto mehr Auswirkung auf die Stimmung. Wer also im Oktober und November eine gewisse Schwermut verspürt, sollte nicht erschrecken. Manchmal ist sie schlicht Ausdruck einer Jahreszeit, die uns zwingt, genauer hinzuschauen. Und dennoch: Der Herbst lehrt uns, dass Abschiede nicht nur Verluste sind. Sie sind ebenso ein Auftrag. Abschiedlich leben heißt, den Wert des Tages zu erkennen: Carpe diem. Um das Schöne bewusst zu gestalten und weiterzugeben. Alles, was wir an Gutem in die Welt bringen, lebt in anderen weiter. So ist der Herbst nicht nur ein Ende, sondern auch ein Versprechen. Er erinnert daran, dass das Leben nicht glatt und ewig sein muss, um wertvoll zu sein – sondern bunt, endlich, reich an Ernte. Vielleicht ist genau das der Trost: dass gerade in der Vergänglichkeit der Glanz des Augenblicks liegt.

Kommentare