Nichts mehr da: Lieferengpass bei Blutverdünner Marcoumar

Gerinnungshemmer bewirken, dass das Blut langsamer gerinnt.
Seit rund einem Monat ist der gängige Gerinnungshemmer Marcoumar in Österreich nicht mehr lieferbar. Zunächst waren ab Juni nur noch Restposten der Großpackung mit 100 Stück vorhanden, seit Ende August ist auch die kleinere Packung mit 25 Stück nicht mehr erhältlich. "Für einen gewissen Zeitrahmen haben die Apotheken Vorräte. Nach einem Monat sind diese Bestände aber nicht mehr vorhanden", sagt Judith Potesil, Referentin der pharmazeutischen Abteilung der Apothekerkammer.
Das Medikament kommt vor allem bei Patientinnen und Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere bei Vorhofflimmern oder künstlichen Herzklappen, zum Einsatz. Auch nach operativen Eingriffen wird es verordnet. Viele nehmen das bekannte Mittel seit einigen Jahren. Ziel ist, die Bildung von Blutgerinnseln (Thrombosen) zu verhindern.
Um den Engpass zu überbrücken, wird derzeit vermehrt ein anderer Gerinnungshemmer, das Medikament Sintrom, verschrieben. Dabei handelt es sich nicht um kein Generikum, sondern die beiden Präparate enthalten unterschiedliche Wirkstoffe. "Die beiden Medikamente sind aus der gleichen Wirkstofffamilie, sie sind sozusagen Schwestern, aber nicht Zwillinge und haben eine etwas andere Wirkweise. Bei einer Umstellung müssen Patientinnen und Patienten engmaschiger kontrolliert werden", meint Potesil. Marcoumar enthält den Wirkstoff Phenoprocoumon, bei Sintrom ist es Acenocoumarol.
Für Betroffene und Ärzte schwierig
In Österreich ist Marcoumar derzeit das einzige Präparat mit dem Wirkstoff Phenoprocoumon, der bereits in den 1950er Jahren zugelassen wurde. Für Betroffene und ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte ist die Situation schwierig. Sie müssen sich rechtzeitig um eine Alternative bemühen - das Medikament darf keinesfalls vorübergehend weggelassen werden, auch nicht für ein paar Tage, da es dann zu gefährlichen Blutgerinnseln kommen kann. Die Folge können Gefäßverschlüsse in verschiedenen Organen bis hin zu Schlaganfall und Herzinfarkt sein.
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Besonders für Patientinnen und Patienten mit mechanischen Herzklappen kann der Engpass problematisch sein. Sie können nicht auf Gerinnungshemmer mit anderen Wirkstoffen wechseln, da diese bei ihnen nicht funktionieren.
Wann ein Wechsel möglich ist
Für andere Marcoumar-Patientinnen und Patienten ist der Wechsel auf andere Gerinnungshemmer eine Möglichkeit, meint Kardiologe Heiko Brugger von der Meduni Graz. "Im klinischen Alltag macht es für sie keinen erheblichen Unterschied – sie müssen aber gut eingestellt sein." Der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin müsse vor allem schauen, wie gut das jeweilige Medikament vertragen werde.
Brugger: "Marcoumar wird generell nicht mehr so viel verwendet, da es neuere Wirkstoffe gibt. Der Lieferengpass betrifft daher nicht alle Patientinnen und Patienten, die Gerinnungshemmer brauchen."
Oft spricht man von "Blutverdünnern", wenn Gerinnungshemmer gemeint sind. Tatsächlich wird das Blut aber nicht "flüssiger" gemacht, sondern die Blutgerinnung gehemmt. Gerinnungshemmer, auch Antikoagulanzien, bewirken, dass das Blut langsamer gerinnt. Dadurch soll die Bildung von Blutgerinnseln (Thrombosen) verhindert werden – das Risiko für Erkrankungen, die durch Blutgerinnsel verursacht werden, wie Schlaganfälle, Herzinfarkte und Venenthrombosen, sinkt.
Die Blutgerinnung ist ein komplizierter Vorgang, der dazu dient, Blutungen zu stoppen. Kommt es zu einer Verletzung eines Blutgefäßes, lagern sich zunächst die Blutplättchen, die Thrombozyten, an die verletzte Stelle der Gefäßwand und ballen sich fest zusammen. Später folgen Eiweiße aus der Leber, die sogenannten Gerinnungsfaktoren, nach. Sie bewirken die weitere Zusammenlagerung der Blutplättchen und die Reparatur der Wunde.
Unterschiedliche Gerinnungshemmer
Je nach Erkrankung sind unterschiedliche Gerinnungshemmer notwendig, die in die Blutgerinnung eingreifen, sie aber nie vollständig ausschalten, da man sonst bei einer Verletzung verbluten würde.
Marcoumar zählt zur Gruppe der Oralen Antikoagulanzien, die dafür sorgen, dass es wesentlich länger dauert, bis das Blut gerinnt. Sie wirken auf die Gerinnungsfaktoren. Marcoumar ist ein Vitamin-K-Antagonist: Die Leber benötigt für die Bildung einiger Gerinnungsfaktoren Vitamin K. Die Medikamente verdrängen einen Teil des Vitamin K und hemmen dadurch die Produktion dieser Gerinnungsfaktoren. Sie wirken mit einer Verzögerung von zwei bis vier Tagen.
Wie stark das Medikament wirkt, hängt von der Dosierung ab sowie von Faktoren wie dem Stoffwechsel, Wechselwirkungen mit weiteren Medikamenten und Erkrankungen einer Person. Deshalb muss der Gerinnungswert (INR-Wert) regelmäßig kontrolliert und die Dosis gegebenenfalls angepasst werden.
Neue orale Antikoagulanzien (NOAKs) hemmen bestimmte Gerinnungsfaktoren direkt. Ihre Wirkung setzt schon nach wenigen Stunden ein und eine regelmäßige Kontrolle des Gerinnungswerts ist nicht notwendig.
Der Wechsel auf ein anderes Medikament müsse aber gut begleitet werden. Über Blutanalysen wird der geeignete Moment für einen Wechsel bestimmt, denn die Gerinnungshemmung darf während der Umstellung nicht zu hoch sein – sonst drohen Blutungen, etwa im Magen-Darm-Trakt.
Wirkstoff kann aus Deutschland importiert werden
Für alle jene, für die ein Wechsel auf einen anderen Gerinnungshemmer nicht möglich ist, kann ein Präparat mit demselben Wirkstoff wie Marcoumar aus Deutschland importiert werden. Denn: Anders als in Österreich und der Schweiz, wo es ebenfalls seit mehreren Wochen einen Marcoumar-Lieferengpass gibt, gibt es in Deutschland auch andere Medikamente mit dem Wirkstoff Phenoprocoumon. Bestellungen aus dem Ausland können über heimische Apotheken abgewickelt werden, man müsse aber bedenken, dass dies ein paar Tage dauern kann, sagt Potesil.
Das Pharmaunternehmen Viatris, das in Österreich Marcoumar vertreibt, verweist ebenfalls auf den Import. "Die ganze Zeit über bestand für Apotheken im Notfall die Möglichkeit des Waren-Kleinimports für Patientinnen und Patienten, womit individuell für diese das Arzneimittel aus Deutschland beschafft werden konnte. Wir bedauern, dass es zu dem kurzfristigen Engpass gekommen ist, haben aber alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit Patientinnen und Patienten so rasch wie möglich wieder versorgt werden können", teilte Unternehmenssprecherin Claudia Handl mit.
Wird ein Medikament gewechselt, muss das ärztlich begleitet werden. Das in Österreich derzeit als Alternative verschriebene Sintrom werde in einigen Ländern mehr verabreicht als hierzulande, während Marcoumar eher im deutschsprachigen Raum vertreten sei, meint Brugger.
Und wenn Marcoumar wieder lieferbar ist? "Prinzipiell ist es möglich, nach einer vorübergehenden Einnahme des einen Gerinnungshemmers wieder zum anderen zu wechseln. Das muss aber der behandelnde Arzt entscheiden, denn es besteht ein gewisses Risiko, dass die Gerinnung gestört wird“, so Brugger.
Ausblick, wann Marcoumar wieder lieferbar ist
Pharmazeutin Potesil sieht keine Bevorzugung bei den möglichen Präparaten zur Gerinnungshemmung. "Man kann nicht sagen, das eine oder das andere ist besser. Es liegt rein beim verschreibenden Arzt und ist etwa davon abhängig, welche Grunderkrankungen eine Person hat." Zudem gibt es weitere Ausweichmöglichkeiten aus der Gruppe der sogenannten Neuen oralen Antikoagulanzien (NOAKs) – ob sie verwendet werden können, hänge ebenfalls von den Erkrankungen einer Person ab. Manche Medikamente können etwa bei Funktionseinschränkungen der Niere nicht eingenommen werden.
Die Ursache des Lieferengpasses ist laut Potesil nicht bekannt. Es gibt aber einen Ausblick: Laut Viatris wird Marcoumar seit dem 22. September wieder ausgeliefert und Bestellrückstände werden aufgelöst. "Laut Großhändler soll Marcoumar in Österreich ab Ende dieser Woche oder Anfang nächster Woche wieder verfügbar sein", weiß Potesil.
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