Warum kann Kunst so tief berühren, manchmal sogar körperlich?

Blatt mir bunten Farbklecksen
Kunst hebt Qualitäten des Daseins – das Offene, Wandelbare, Verletzliche – in besonderer Form hervor, sagt Psychologin Prof. Dr. Tatjana Schnell.

Das Leben ist unvorhersehbar. Es ist offen, voller Brüche und Möglichkeiten, nie ganz planbar, manchmal absurd. Das gleiche gilt für die Kunst. Sie hebt diese Qualitäten des Daseins – das Offene, Wandelbare, Verletzliche – in besonderer Form hervor: bildlich, sprachlich, in Bewegung oder Musik. Sie bricht Erwartungen, sucht Sinn, wo keiner vorgegeben ist, oder feiert den Unsinn. 

Kunst spiegelt unsere Existenz: auch das, was wir im Alltag scheuen. Sie zeigt das Widersprüchliche. In ihr verdichten sich Erfahrungen von Melancholie und Angst ebenso wie Stärke oder faszinierende Schönheit.  Wer sich darauf einlässt, kann tiefe Reaktionen erleben. Sie sind meist emotional, manchmal auch körperlich. Vielleicht kennen Sie das: die Gänsehaut bei einem Tonartwechsel in einem Musikstück, ein wohliger Schauder beim Lesen eines Romans. Der Fachbegriff dafür lautet „aesthetic chills“ – ästhetisches Schaudern oder Kribbeln. Solche chills können entstehen, wenn Kunst ein Gefühl von Zugehörigkeit, Wärme oder Genuss vermittelt, aber auch bei Eindrücken von Gefahr oder Angst. Oft ist es auch all das zusammen! 

So entsteht aus dem Spannungsfeld der Widersprüche eine besondere Tiefe. Sie ähnelt dem Erleben von Ehrfurcht, etwa im Kontext von Religion oder Natur: Wir begegnen dem Unverfügbaren. Das ist sowohl furchterregend als auch schön. Es ist eine existenzielle Erfahrung, die wir kaum in Worte fassen können. Nicht jeder erlebt solche Reaktionen auf Kunst. Die Forschung kennt einige Voraussetzungen: Je vertrauter wir mit einer Kunstform sind, desto eher werden wir durch sie berührt. Weiterhin braucht es Offenheit und Bereitschaft dafür, sich derart einzulassen. Und die entsteht vor allem dann, wenn wir einen Sinn darin sehen. 

Wenn wir das, was dort, auf der Bühne, im Buch geschieht, als persönlich relevant erleben, dann bewegt es uns.
Die Folgen? Kunst kann uns verändern. Ästhetische chills erweitern unser Verständnis für andere und motivieren, der Ungewissheit des Lebens zu begegnen. 

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