Gesellschaftsspiele: Erlebnisurlaub im Kopf

Familie beim Kartenspiel am Strand
Analoges Spielen sorgt für Entspannung im Kopf – und trainiert dennoch zugleich unser Gehirn. Das gilt für Kinder ebenso wie für Ältere. Und: Warum neue Gesellschaftsspiele besser für uns sind als Sudoku und Kreuzworträtsel.

Dass Spiele nicht nur für Kinder sind, das wissen wir seit geraumer Zeit, spätestens seit der Corona-Pandemie. Das analoge Spiel ist aber auch mehr als bloßer Zeitvertreib – im Gegenteil, es wurde uns von der Evolution quasi in die Wiege gelegt.

In der Wissenschaft hat sich nicht umsonst der Begriff des „Homo ludens“ etabliert – der „spielende Mensch“ also. Durch das Spiel entstehen Kultur, Gemeinschaft und Gesellschaft, es hat generationenverbindende Kraft. Einer der vielen Gründe, gerade jetzt in den Ferienmonaten als Familie um den Spieletisch (oder auf der Strandliege) zum Spielen zueinanderzufinden. Das Spiel trägt aber auch zu unserer Gesundheit bei. Zur körperlichen gleichsam wie (vor allem) zur psychischen.

Von Glück und guten Gewinnern

Die Effekte des Spiels auf uns Menschen sind mittlerweile gut erforscht. Schon früh wusste man um die sozialen Kompetenzen, die wir damit erlernen. Das Spiel stellt uns „eine Arena bereit“, formulierte einst treffend der neuseeländische Spieltheoretiker und Forscher Brian Sutton-Smith, auf dessen Thesen sich die Ludologie – also die Spielewissenschaft – bis heute stützt.

Im Spiel können wir uns „ausprobieren“, wir dürfen in Rollen schlüpfen, die uns im normalen Leben verwehrt bleiben. (Ja, auch in andere Geschlechterrollen – und, wichtig, in jene des Bösewichts.) Wir lernen (vor allem im Glücksspiel), uns dem schicksalhaften Aspekt des Lebens zu ergeben. Die besten Strategien helfen nichts, wenn die Würfel gegen uns fallen. Und: Ein guter Verlierer zu sein ist ebenso wichtig, wie einen guten Gewinner abzugeben.

Wir lernen zugleich, in einer Gemeinschaft zu agieren, zu deren Gelingen wir beitragen müssen; wie im echten Leben funktioniert sie nur reibungslos, wenn wir uns an Gesetze und Regeln halten. Wie praktisch, dass diese Regeln hier in einem Heftchen verschriftlicht sind! Mehr noch: Das Spiel ermöglicht uns auch, in geschütztem Rahmen den Regelverstoß zu proben. Wer schummelt, erfährt soziale Ächtung – freilich nur ein bisschen. Und wenn wir die Regeln partout nicht akzeptieren wollen? Dann können wir in der Gruppe zum Konsens kommen, sie gemeinsam weiterzuentwickeln.

Wie unser Gehirn davon profitiert? 

Das Spiel konserviert nicht nur tradierte Regeln und Werte, es fordert uns zur Innovation heraus. Wer unterliegt, muss zu besseren Strategien greifen. Wer scheitert, muss andere Lösungswege erdenken. Im besten Fall erleben wir schon als Kinder, dass wir die Machtverhältnisse ins Gegenteil verkehren können. Wenn wir nämlich – etwa bei „Memory“ oder anderen Merkspielen – plötzlich gegen die uns sonst überlegenen Erwachsenen gewinnen. Das macht Mut. Spielen, postulierte Sutton-Smith, „erweitert das adaptive Verhaltenspotenzial und bringt neue Reaktionsweisen hervor“.

Spiel ist nicht gleich Spiel

Genauere Ergebnisse liefert etwa eine aktuelle Forschungsarbeit der Universität Portier in Frankreich. Knapp 500 Probanden, die über längere Zeiträume PC- und analoge Gesellschaftsspiele spielten, wurden auf ihre kognitiven Fähigkeiten hin getestet. Eines der Ergebnisse: Moderne Brettspiele wie etwa der Klassiker „Carcassonne“, der in der Studie herangezogen wurde, fördern die sogenannte „fluide Intelligenz“. Sprich: die Fähigkeit, Probleme zu lösen.

Mehrere Studien kommen zum Ergebnis, dass Spiele bei älteren Menschen die kognitive Reserve stärken und das Risiko verringern können, an Demenz zu erkranken. Selbst bei Menschen, die – in leichter oder mittlerer Stufe – erkrankt sind, gelten sie als sinnvolle Beschäftigung. Wichtig: Wer geistig fit bleiben will, muss sich regelmäßig an Neues wagen. Studien zeigen, dass das bloß repetitive Lösen gleicher Herausforderungen nicht zum Erfolg führt. Wird beim täglichen Kreuzworträtsel immer wieder bereits vorhandenes Wissen abgefragt oder ein Sudoku nach eingeübter Methode gelöst, regt das die Neuronen nicht zur Vernetzung an.

Spiel ist also nicht gleich Spiel: Welche kognitiven Fähigkeiten trainiert werden, hängt von den Anforderungen ab, die das Regel-Setting an uns stellt. Die (selbst spielebegeisterte) Neuropsychologin Barbara Ritter, tätig am Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation im Schweizer St. Gallen, hat einen Online-Ratgeber mit aktuellen Spielen zusammengestellt – und definiert eine Vielzahl positiver Auswirkungen: Sie reichen von erhöhter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit über beschleunigte Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns bis hin zu verbesserter Impulskontrolle, erhöhter Flexibilität und besserer Wortfindung. Auch Hand-Augen-Koordination und räumliches Denken werden angeregt. Empfehlenswert sei eine tägliche Spieldauer von 20 bis 30 Minuten bei Kindern und 30 bis 60 Minuten bei Erwachsenen.

Gemeinsam gegen das Spiel

Als anhaltender Trend in der Spielebranche haben sich zuletzt Logikrätsel aller Art etabliert: Sie stellen das Kooperative – gemeinsam gegen das Spiel! – in den Vordergrund. Die Bandbreite reicht von Escape Games bis zu Detektivrätseln. Immer öfter stehen einzelne Sinne im Zentrum, die ausgeschaltet oder besonders in den Fokus gerückt werden. Bei Kartenspielen wie „The Mind“ darf nicht gesprochen werden – bei „Echoes“ wiederum gilt es, mysteriöse Detektivfälle nur mittels Gehör zu rekonstruieren.

Und obwohl so viel passiert in unserem Kopf, sorgen Gesellschaftsspiele doch für Entspannung. Eine Oxford-Studie belegt, dass sie beitragen, die Ausschüttung von Stresshormonen zu verringern; die Produktion von Glückshormonen wird zugleich erhöht. Wie aber kann es sein, dass uns das Spiel gleichermaßen anregt, und grübeln und tüfteln lässt – und entspannt?

Spielen ist ein immersives Erlebnis. Ein Spiel nimmt uns – wenn es gut gemacht ist – mit all unseren Sinnen in Beschlag, wir tauchen völlig ein und ab. Und zwischen den Problemen im täglichen Leben und jenen, vor die uns ein Spiel stellt, besteht ein entscheidender Unterschied, wie die klinische Psychologin Birgit Stetina einst in einem KURIER-Interview erklärte: „Im Spiel weiß ich, dass alle Aufgaben auch lösbar sind, wenn ich mich nur bemühe. Es liegt in meinen Händen. In einer Welt, in der wir alle Kontrollverlust erleben, ist das befreiend.“

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