Auszeit mit Wirkung: Vom Sinn der Erholung

Auszeit mit Wirkung: Vom Sinn der Erholung
Ausspannen, abschalten, loslassen, durchatmen – oder einfach nichts tun: Es gibt viele Möglichkeiten, um Erholung zu beschreiben. „Auf jeden Fall ist sie ein Faktor für das Wohlbefinden und ist essenziell für die Gesundheit“, sagt Ao. Univ.-Prof. Dr. Gerhard Blasche. An der Medizinischen Universität Wien beschäftigt sich der Gesundheitspsychologe mit den Auswirkungen von Stress und Erholung auf den menschlichen Organismus. Er weiß: „Es gibt eine Reihe von Gegebenheiten im Alltag, die einen gewissen Ausgleich notwendig machen.“
Doch warum ist das überhaupt so? Der Alltag bringt unterschiedliche Anforderungen mit sich. Ob beruflich oder auf anderen Ebenen – wir müssen eine Leistung erbringen, uns anstrengen und eine gewisse Disziplin an den Tag legen, um dem gerecht zu werden. „Auf biologischer Ebene schütten wir ein gewisses Maß an Stresshormonen aus, was diese Leistungsfähigkeit ermöglicht“, erläutert der Erholungsforscher. Auf psychologischer Ebene wiederum kommen natürliche Bedürfnisse nach Autonomie und Selbstbestimmung im alltäglichen Trott zu kurz. Eben weil wir die an uns gestellten Erfordernisse erfüllen müssen. „Ob uns das freut oder nicht.“ Es liegt auf der Hand, dass der Spagat im alltäglichen Hamsterrad zehrt. Erst recht, wenn der Stress zu viel wird. Wird das Bedürfnis nach Erholung zu lange ignoriert, fordert es der Körper früher oder später. „Stress schränkt verschiedene Funktionen ein oder unterbindet sie ganz. Je nachdem, wie intensiv die Belastung ist“, erklärt Blasche.
Es können etwa Verdauung und Immunsystem eingeschränkt arbeiten. „Bei Stress läuft der Körper auf Hochtouren. Deshalb brauchen wir im Jahresverlauf Phasen, in denen weniger oder gar keine Anforderungen an uns herangetragen werden, sodass sich auf körperlicher Ebene die Stressreaktionen zurückbilden können.“
Man sollte meinen, dass der Begriff „Stress“ irgendwo im hektischen Londoner Großstadtleben geprägt wurde, doch tatsächlich war es ein gebürtiger Österreicher, der dem Phänomen einen Namen gab und es wissenschaftlich beschrieb – obwohl das Wort aus dem Englischen stammt (wörtlich: „Druck“ oder „Anspannung“).
Der Chemiker, Mediziner und Pionier in der Stressforschung, Hans Selye, geboren am 26. Januar 1907 in Wien, gestorben am 16. Oktober 1982 in Montreal, war der Sohn eines ungarischstämmigen Chirurgen. Er studierte Chemie in Prag, Rom und Paris und wanderte 1934 nach Kanada aus, wo er zusätzlich ein Medizinstudium absolvierte.
In seinen Tierversuchen stellte Selye fest, dass Ratten, die Kälte, Verletzungen oder anderen Belastungen ausgesetzt waren, typische Reaktionen zeigten. Diese Reaktionen bezeichnete er zunächst als GAS – General Adaptation Syndrome, auf Deutsch: Allgemeines Adaptations- oder Anpassungssyndrom (AAS). Später prägte er dafür den Begriff „Stress“.
Auch die Unterscheidung zwischen positivem „Eustress“ und negativem „Distress“, also gesundem Anspannungszustand und gesundheitsschädlicher Überforderung, geht auf ihn zurück. Der Begriff „Stress“ hat sich seither weltweit in fast allen Sprachen etabliert, Selye gilt bis heute als einer der meistzitierten Wissenschafter auf diesem Gebiet.
Eustress versus Distress
Stress ist nicht gleich Stress – denn er kann sowohl beflügeln als auch krank machen. Der sogenannte Eustress beschreibt eine positive Form: Er entsteht, wenn wir auf ein Ziel hinarbeiten, Herausforderungen meistern und am Ende mit einem guten Ergebnis, Anerkennung oder einem spürbaren Erfolg belohnt werden. Dieser Stress wirkt motivierend und aktivierend . Wir sind zwar gefordert, fühlen uns aber nicht überfordert. Ganz anders verhält es sich beim Distress, also negativem Stress. Er belastet den Körper und kann sich auf vielfältige Weise äußern: durch direkte Symptome wie Angst, Atemnot, Zittern oder innere Unruhe – aber auch indirekt, etwa durch aggressives Verhalten, Reizbarkeit, Rechthaberei oder Vergesslichkeit. Wird Distress zum Dauerzustand, kann er den Körper nachhaltig schädigen. Er überfordert den Menschen, schwächt das Immunsystem und begünstigt die Entstehung verschiedenster Krankheiten. Ulrike Krestel
Weniger Verpflichtungen
Es lohnt, sich dies gerade zu Beginn der sommerlichen Urlaubszeit bewusst zu machen und in sich hineinzuspüren: Was brauche ich, was braucht mein Körper, mein Geist, um eine stressfreie Phase zu ermöglichen? „Aus psychologischer Sicht geht es vor allem darum, den eigenen Bedürfnissen nachzugehen. Die Dinge ein bisschen so zu gestalten, wie wir es möchten“, sagt Blasche. „Urlaub lebt davon, dass man den Alltag hinter sich lässt, dass man eine gewisse Verpflichtungslosigkeit erlebt.“ Gelingt diese Losgelöstheit vom Alltag hat das erstaunliche Effekte, besagen bisherige Erkenntnisse aus der Erholungsforschung. „Wir wissen, dass Urlaub unmittelbar dazu führt, das Wohlbefinden zu steigern. Man ist fröhlicher, hat eine bessere Stimmung, weniger Stressempfinden und ist entspannter, auch der Schlaf verbessert sich. Urlaub ist unmittelbar eine physische und psychische Regenerationsphase.“ Was in Studien ebenso herausgearbeitet werden konnte: Jene, die mehr durch den Alltag gefordert sind, profitieren durch Urlaube sogar ein bisschen mehr, als Menschen mit hohem allgemeinen Wohlbefinden. „Wir wissen auch: Je mehr Entspannung erlebt wird, desto besser kann man sich erholen.“
Pufferzeiten einplanen
Um den Alltag gut hinter sich lassen zu können, rät der Experte, zu Pufferzeiten – und zwar sowohl vor und auch nach dem Urlaub. „Man muss sich etwas Zeit geben, um anzukommen. Um abschalten zu können, braucht der Mensch das Gefühl, dass die Dinge geregelt sind. Da ist es vernünftig, vor dem Urlaub Zeit einzuplanen, um abzuschließen.“ Gleichzeitig bringt auch die Urlaubsvorbereitung gewisse Anforderungen mit sich, die Auswirkungen haben. Eine Studie mit Menschen, die eine Kur antraten, zeigte: „Selbst bei dieser relativ einfachen Auszeit trat am Tag vor der Anreise, am Tag der Anreise und sogar am Tag danach ein leicht erhöhter Blutdruck auf.“ Das zeigt, dass so ein Ortswechsel trotz dieses „Auszeitcharakters“ eine Vorbereitung erfordert. Blasche vermutet, dass der Effekt bei Urlaubsreisen sogar noch stärker ist, da manche Destinationen weiter entfernt liegen. „Eine neue Umgebung löst immer ein bisschen Stress aus, das ist für uns eine Anpassungsleistung auf allen Ebenen.“
Erholung verläuft nicht linear
Was die Dauer des Urlaubs betrifft, hat die Erholungsforschung einige Erkenntnisse parat. Fest steht: Man braucht tatsächlich einen längeren Zeitraum, um sich gut zu erholen. Erstaunlich ist allerdings, dass ein „Vielmehr“ an Urlaubswochen nicht gleichzeitig auch ein Mehr an Erholung bringt, denn: Erholung verläuft nicht linear. Der Erholungseffekt entfaltet sich am stärksten in der ersten Urlaubswoche. „Typischerweise erreicht das Wohlbefinden um den zehnten Tag seinen Höhepunkt.“ Das bedeutet natürlich nicht, dass man dann abreisen sollte, auch wenn ab diesem Zeitpunkt oft ein leichter Dämpfer einsetzt. Dieser wiederum wird ausgelöst durch die nahende Rückkehr in den Alltag, die das Wohlbefinden ab dem zehnten Tag etwas trüben kann.
„Diese Empfindungen sind allerdings individuell unterschiedlich. Mit zehn bis 14 Tagen Urlaub ist man in der Regel bereits gut aufgestellt“, erklärt der Experte. Ob ein längerer Aufenthalt ab zwei bis drei Wochen noch einen spürbaren zusätzlichen Erholungseffekt bringt, lasse sich wissenschaftlich jedoch nicht eindeutig belegen.
Den Effekt retten
Wie lässt sich die Erholung möglichst lange in den Alltag hinüberretten? Zwei Wochen Urlaub am Stück lösen zwar nicht alle Probleme in Luft auf – und leider hält auch der Erholungseffekt meist nicht allzu lange an. „Das gilt für alle Formen der Erholung: Wir brauchen sie zwar dringend, aber ihre Wirkung ebbt relativ schnell wieder ab.“ Umso wichtiger ist es, möglichst viel davon mitzunehmen – und dabei spielt die Psyche eine zentrale Rolle: durch Vorfreude und Erinnerung. „Urlaub ist ein Ereignis, das positive Erwartungen weckt und idealerweise schöne Erinnerungen hinterlässt. Schon die Aussicht auf eine Reise oder die Erinnerung an vergangene Urlaube kann die Stimmung heben.“
Es ist ein Phänomen, das gar nicht so selten vorkommt: Endlich beginnt der lang ersehnte Urlaub – und man wird krank und liegt darnieder. Fieber, Migräneattacken, Magen-Darm-Erkrankungen oder sogar ein Bruch eines Körperteils sind nur einige Beispiele dafür. Für Symptome, die ausgerechnet am Beginn der oft notwendigen Erholungsphase auftreten, hat sich generell ein Begriff durchgesetzt: Man spricht von „Leisure Sickness“, was übersetzt so viel wie Freizeitkrankheit bedeutet. Was genau dahinter steckt, konnten Mediziner noch immer nicht genau erforschen. „Es ist noch nicht genau geklärt, wie und warum so ein Wechsel von Aktivität zu Inaktivität verschiedene Krankheiten hervorbringt“, sagt Erholungsforscher Gerhard Blasche von der Medizinischen Universität Wien.
Einige Erklärungsansätze dafür gibt es aber. Wenn das Stresslevel gesenkt wird, können Erkrankungen wie etwa Migräne ausgelöst werden. Das trifft auch auf andere – oft psychosomatisch bedingte – Erkrankungen zu, so der Experte.
Um das Phänomen ein wenig besser zu verstehen, gibt ein Blick auf die physiologischen Vorgänge im Körper Aufschluss. Generell gehe Urlaub mit „einer gewissen Anpassungsleistung“ einher. „Man muss sich neu an die Umstände, in diesem Fall das Nichtstun, anpassen.“ Einer der in der Fachwelt diskutierten Erklärungsansätze besagt, dass Stress immer auch das Immunsystem ein wenig aktiviert. „Fällt dieser moderate Stress dann ab, wird das Immunsystem vorübergehend ein bisschen schwächer – bevor es sich durch die Erholung wieder stärkt. In dieser Lücke ist man eine Spur infektanfälliger“, erklärt Blasche. Aus psychologischer Sicht ist ein weiterer Erklärungsversuch, dass der Körper sozusagen „nachgibt“: „Ich fahre meine Widerstandsfähigkeit, die ich in der Arbeitswelt brauche, zurück.“ Durch dieses oft recht plötzliche Nachgeben könnte es zu einer Erkrankung kommen. Umso wichtiger ist es laut Medizinern, auch in Stresszeiten auf Entspannungsphasen, gesunde Ernährung und Schlaf zu achten. Dann hat auch die Urlaubskrankheit keine Chance.
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