Schatz, lass uns auseinanderziehen: Trend-Modell "Living Apart Together"

Genau vierzig Jahre ist es her, dass Ingrid und Peter einander zum ersten Mal begegneten. Zwei Jahre später heirateten sie, zogen in ein Reihenhaus mit Garten und bekamen zwei Töchter. 2016 dann die Trennung – die räumliche Trennung. Während Peter in ein Haus am Waldrand zog, übersiedelte Ingrid in eine Wohnung in der Stadt.
„Mein Mann wollte mehr Grün, ich sehnte mich nach dem Trubel der Großstadt“, erzählt die 64-Jährige. Nach dem Auszug der Töchter standen sie vor einem Dilemma: „Wie unsere Wohnwünsche erfüllen, ohne dass einer von uns unglücklich ist?“ Die Entscheidung fiel dem Paar nicht leicht. „Sie hat uns an unsere partnerschaftlichen Grenzen gebracht, doch irgendwann stand fest: Wenn wir beide nach unseren Vorstellungen und weiterhin als Paar leben wollen, dann geht das nur an getrennten Orten.“
1,6 Millionen
Einpersonenhaushalte gab es laut Statistik Austria 2023 in Österreich. Im Jahr 1985 waren es noch 770.000.
6 %
der vergebenen Menschen über 43 leben laut einer deutschen Umfrage in LAT-Beziehungen. Je älter, desto weniger wollen sie zusammenzuziehen.
Heute trennen die beiden 25 Autominuten. Sie sind nach wie vor glücklich verheiratet, führen aber jeweils ihren eigenen Haushalt. „Living Apart Together“ – zusammen sein, getrennt wohnen, abgekürzt: LAT – heißt das Beziehungsmodell, auf das nicht nur Peter und Ingrid schwören. Seit Lifestyle-Guru Gwyneth Paltrow öffentlich von ihrer LAT-Beziehung mit ihrem zweiten Ehemann Brad Falchuk schwärmte, rückt das unkonventionelle Lebensmodell immer stärker in den gesellschaftlichen Fokus.
„Wollen Freiheiten nicht aufgeben“
Auch die Wissenschaft interessiert sich zunehmend für das örtlich getrennte Lieben. Vor Kurzem ließen britische Forscher mit einer neuen Studie zu LAT-Beziehungen in der zweiten Lebenshälfte aufhorchen: In der bis dato umfassendsten Analyse zu dem Thema zeigten Paare über 60 mit getrennten Wohnsitzen ein ähnlich hohes seelisches Wohlbefinden wie verheiratete, zusammenlebende Paare – jedoch ohne alltägliche Belastungen und Konflikte, die mit einem Haushalt einhergehen. Und noch etwas stellten die Londoner Studienautoren anhand der Daten aus zwölf Jahren fest: Für frisch verliebte über 60-Jährige war LAT das beliebteste Modell – zehn Mal beliebter als eine klassische Ehe.
Auch Karin und Rudolf, 58 Jahre und aus Wien, wollen keinen gemeinsamen Haushalt. „Wir haben beide langjährige Beziehungen hinter uns und lebten danach etwa zehn Jahre alleine“, erklären sie. Als sie sich vor sieben Jahren ineinander verliebten, war Zusammenziehen kein Thema. Das ist bis heute so geblieben. „Wir wollten die Freiheiten, die wir als Singles schätzen gelernt haben, nicht aufgeben. Dank LAT ist das möglich.“ Die Wochenenden und zwei bis drei Abende unter der Woche werden gemeinsam verbracht, was manchmal eine logistische Herausforderung darstellt. Ihr Freundeskreis reagierte erst skeptisch: Ist die Liebe nicht groß genug? „Inzwischen zweifelt niemand mehr“, sagt Rudolf.
Eine Frage des Alters auch in Österreich
Wie viele Paare so wie Karin und Rudolf, Ingrid und Peter österreichweit in LAT-Beziehungen leben, wird statistisch nicht erfasst. Vom Österreichischen Institut für Familienforschung (ÖIF) heißt es, dass LAT größtenteils bei unter 35-Jährigen als vorübergehende Eingangsphase der Partnerschaft gesehen wird. „Deutlich anders ist Haltung bei den über 50-Jährigen. Hier plant rund die Hälfte keinen Zusammenzug“, sagt Markus Kaindl, der am ÖIF zu den Motiven geforscht hat. „Routinen und Tagesabläufe lassen sich in neuen Beziehungen leichter aufrechterhalten, wenn man getrennt wohnt. Da diese Gewohnheiten mit dem Alter stärker werden, gewinnt LAT im Vergleich zum Zusammenziehen an Attraktivität.“ Die wachsende Zahl der Einpersonenhaushalte beinhalte auch viele „Schein-Singles“, die eigentlich in LAT-Beziehungen leben, sagt Kaindl.
Weil das Modell aufs Budget schlägt, sind es vor allem prominente und wohlhabende Paare ohne kleine oder gemeinsame Kinder, die dem LAT-Leben frönen. Etwa Sheryl Lee Ralph („Abbott Elementary“) und Senator Vincent Hughes, die seit Beginn ihrer Ehe zwischen Ost- und Westküste pendeln. Oder Sarah Paulson und Holland Taylor, die auch nach neun Jahren nicht an gemeinsame vier Wände denken. Ihr Liebesrezept: „Wir sind zusammen, wenn wir wollen. Wenn wir nicht wollen, sind wir nicht zusammen.“

Das Schauspielerinnen-Paar Sarah Paulson (li.) und Holland Taylor l(i)ebt gern autonom
Wie viel Autonomie eine Beziehung braucht und aushält, bleibt eine individuelle Abwägung. Für Ingrid und Peter war die räumliche Trennung der richtige Weg. Regelmäßig genießen sie Urlaube und spontane Treffen zu zweit. Ohne „eine starke Vertrauensbasis, Zuneigung und den Willen, in Verbindung zu bleiben“ ginge es nicht, weiß Ingrid. Nach 31 Ehejahren musste sie sich wieder daran gewöhnen, in eine leere Wohnung zu kommen. Inzwischen schätzt sie die Vorzüge. „Das Chaos ist jetzt ausschließlich meines.“
Das Therapeuten-Ehepaar Sabine und Roland Bösel erklärt den Reiz des getrennten Wohnens im höheren Alter und wie man es schafft, trotz räumlicher Distanz partnerschaftliche Nähe zu bewahren.
Wann würden Sie einem Paar zu getrennten Wohnsitzen raten?
Sabine Bösel: Wir begleiten Paare darin, ihre eigenen Wege und Antworten zu finden. Interessanterweise kommen besonders jüngere Paare oft nach ziemlich genau zwei Jahren Beziehung mit dieser Frage zu uns. Das ist die Zeitspanne, nach der in Partnerschaften oft die Frage aufkommt, ob man zusammenzieht. Diese Frage kann sich ausweiten zur Frage, ob man für immer zusammenzubleiben gedenkt und manchmal, wenn ein Part davon überzeugt ist und der andere nicht, führt das in eine Krise.
Roland Bösel: Es geht für uns bei dieser Frage auch um keine vorgefertigten Lebenskonzepte, um kein „man soll zusammen oder man soll getrennt leben“. Für das Paar muss es passen.
Studien zufolge wirkt das LAT-Modell positiv auf die mentale Gesundheit – vor allem bei über 60-Jährigen. Woran könnte das liegen?
Sabine Bösel: In der zweiten Lebenshälfte genießen viele Menschen die Freiheit, sich keine Karriere mehr aufbauen und keine Kinder mehr versorgen zu müssen. Gerade alleinstehende Frauen haben es sich oft gemütlich eingerichtet und wollen nicht, dass jemand in ihr Refugium einwandert. Es kann als angenehm empfunden werden, einander zu besuchen, aber doch alleine zu wohnen.
Roland Bösel: Die getrennten Haushalte schützen Frauen auch davor, die Mehrheit der Haushaltsaufgaben zu übernehmen, was bei gemeinsamen Wohnsitzen noch immer häufig der Fall ist und natürlich zu Konflikten führen kann.
Was kann man tun, damit die Liebe bei getrennten Wohnsitzen nicht vergeht?
Sabine Bösel: Das Gelingen einer Beziehung braucht Bewusstsein, immer. Eine spezielle Gefahr bergen getrennte Wohnsitze schon. Es kann sein, dass sich, wer nur auf Besuch ist, nicht zu Hause fühlt und sich wie ein beliebiger Gast verhält. Man sollte Bedingungen herstellen, unter denen sich beide an beiden Orten angekommen fühlen und sich natürlich verhalten. Unnatürlich wäre es, dass, wenn der oder die mit der Wohnung etwas zu erledigen hat, der oder die andere auf der Couch sitzt und die eigene Aktivität aufs Warten beschränkt.
Ist LAT das Beziehungsmodell der Zukunft?
Sabine Bösel: Der Mensch will sich vielleicht manchmal zurückziehen, aber nicht dauerhaft allein in seiner Höhle sitzen. Es liegt nahe, dass gemeinsame Wohnsitze in längeren Partnerschaften auch in Zukunft überwiegen werden.
Roland Bösel: Außer den sozialen Bedürfnissen spielen auch praktische Gründe eine Rolle. Zwei Wohnsitze verkomplizieren manche Bereiche des Lebens bzw. fällt man damit um Synergien um, beim Kochen etwa. Zudem ist es eine Ressourcenfrage. Zwei Wohnsitze zu erhalten, das schlägt sich auf das Budget.
Dr. Sabine Bösel und Roland Bösel Selbst seit bald 50 Jahren ein Paar, geben die Paar- und Psychotherapeuten ihr Wissen aus der Arbeit mit mehreren tausend Paaren heute vor allem in Paar-Seminaren, Workshops und online auf www.liebesdoppel.at weiter.
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