Mathematik, Statistik, Exponential- und Wahrscheinlichkeitsrechnung – vielen von uns steigen noch heute die Schweißperlen auf die Stirn. Aber die Corona-Krise entsteht zur Zeit wegen der Mathematik. Denn rund 547 Menschen sind im Spital, 96 auf der Intensivstation, 52 sind wegen einer Covid-19-Erkrankung verstorben. So brutal das klingt: Im Vergleich zu einer normalen Grippewelle wäre das kein Grund zu größerer Besorgnis, dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte. Die Mathematik spricht eine andere Sprache, anders gesagt: Die Sorgen sind berechtigt.
Hobby-Pandemie-Prognostiker rechnen: 6.398 sind bestätigt infiziert. Das tägliche Wachstum liegt bei 18 Prozent, bis Ostern sind es noch 20 Tage. 6.000 x 1,18 hoch 20 = 175.260 Erkrankte. Gibt’s ja gar nicht, oder doch?
Dr. Niki Popper von der TU Wien weiß es genauer, und deshalb berät er auch die Bundesregierung. In hochkomplexen Modellrechnungen hat er drei Szenarien ermittelt, die der Regierung einen Weg vorzeichnen könnten, wie es mit uns weitergeht. Es wird simuliert, wie sich Menschen unter welchen Voraussetzungen mit anderen treffen, wie hoch die Ansteckungswahrscheinlichkeit ist, wie weit Wohnhäuser auseinander liegen, wie viele Menschen ganz schwere bis überhaupt keine Symptome haben. Viele weitere Eingangsvariablen folgen. Die Daten stammen von der Statistik Austria, den Handybetreibern, auch aus China und anderen Ländern. Das Modell lebt also und ist jeden Tag anders.
Die drei Szenarien
Doch was steht in Poppers drei Szenarien?
Im ersten bleiben alle Maßnahmen gleich wie bisher. Die Kurve würde dann sinken und nach dem Sommer gegen null gehen. Das zweite Szenario stellt eine schrittweise Öffnung der Arbeitsstätten bei gleichzeitiger Schließung der Schulen in Aussicht. Die Zahlen würden dann langsamer zurückgehen, und das Gesundheitssystem würde nicht überlastet werden. Sollten auch die Schulen öffnen, würde die Zahl der Infektionen weiter massiv steigen (Szenario 3).
„Das sind nur drei von vielen Szenarien“, sagt Popper im KURIER-Gespräch. Denn natürlich gibt es viele Zwischenstufen. „Ob dann vielleicht Modell 25b kommt, muss die Regierung entscheiden“. Popper räumt ein, dass es für ihn und sein Team nicht nur um nackte Zahlen gehe, sondern sich alle bewusst seien, wie viel dabei für die Menschen auf dem Spiel steht. Aber auch die nackte Wahrheit verbirgt er nicht: „Ich kann nicht ausschließen, dass wir auch bei uns Zustände wie derzeit in Italien oder Spanien bekommen.“ Eine Meinung der sich andere Forscher anschließen. Stefan Thurner vom Complexity Science Hub Vienna warnt eindringlich vor einem verfrühten Aufheben der Maßnahmen. Wenn man die Kurve der Todesfälle in Österreich um drei Wochen nach vorne zieht, „dann liegt sie genau auf der Kurve der Toten in Italien“, sagte er zur APA. Vom leichten Abflachen der Infizierten-Kurve dürfe man sich nicht zu optimistisch stimmen lassen.
Anfängerfehler
Bei den Berechnungen in Internet-Videos ist oft auch vieles unrichtig. Ein klassischer Fehler werde etwa bei der Berechnung der Todesrate gemacht. Weil man die Zahl der Toten durch die jetzt Infizierten dividiert und nicht mit jenen von 11 Tagen etwa, als diese Menschen positiv getestet wurden. Oder weil die hohe Dunkelziffer nicht berücksichtigt wird. Daher wird die Todesrate oft überschätzt.
Die klare Aussage der deutschen Wissenschaft: „Eine präzise Schätzung der Sterblichkeit ist zum jetzigen Zeitpunkt nahezu unmöglich“. Allerdings gibt es ein natürliches Experiment: Das Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ wurde komplett durchgetestet. Wenn man den Altersschnitt korrigiert – Menschen auf Kreuzfahrtschiffen sind älter als die Bevölkerung – dann ergibt sich eine Sterblichkeit von 0,5 Prozent. Mit einer Unsicherheit von 50 Prozent, schreibt der deutsche Newsletter „Unstatistik des Monats“.
Genau weiß es also auch die Mathematik nicht. Aber vielleicht in zwei Wochen, wenn mehr Daten vorliegen. Bis dahin heißt es: zu Hause bleiben, Hände waschen, Bettenkapazitäten aufbauen. Und mehr testen, testen, testen.
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