Wirtschaftsweiser: „Ich kann Draghis Hilferuf gut nachvollziehen“

Achim Truger, seit März 2019 Mitglied des Sachverständigenrates. Er ist Nachfolger von Peter Bofinger und wurde von den Gewerkschaften nominiert
Achim Truger, Mitglied des deutschen Sachverständigenrates, über Konjunkturpakete, den Investitionsrückstau und die Nöte der EZB.

Es ist paradox: Österreichs Wirtschaft wächst momentan deutlich rascher als die deutsche, dennoch ist die Arbeitslosigkeit hartnäckig höher als im Nachbarland. Ist das deutsche Jobwunder mit dem großen Billiglohnsektor erkauft?

Nein, sagt der „WirtschaftsweiseAchim Truger, seit März 2019 einer von fünf Ökonomen im Sachverständigenrat, der die Bundesregierung in Berlin berät: „Wenn es so wäre, dann hätte die Einführung des Mindestlohnes (in Deutschland mit Anfang 2015, Anm.) bei der Beschäftigung Spuren hinterlassen müssen.“ Diese seien aber entgegen den Prognosen kaum nachweisbar.

Trugers Erklärung für die Diskrepanz: In Österreich sei, etwa durch die Zuwanderung, das Arbeitsangebot massiv gestiegen. Sprich: Es mussten für mehr Menschen Jobs gefunden werden. Ansonsten sei der Zuwachs der Beschäftigung da wie dort ähnlich.

Wirtschaftsweiser: „Ich kann Draghis Hilferuf gut nachvollziehen“

Truger (ganz rechts) mit "Wirtschaftsweisen"-Kollegen Volker Wieland, Lars Feld, Christoph M. Schmidt und Isabel Schnabel (v.l.).

Kein Konjunkturpaket

Die deutsche Industrieproduktion schrumpft seit Quartalen. Eine Rezession der Gesamtwirtschaft verhindern der starke private Konsum, die Dienstleistungen und der Bausektor. In ihrem Jahresgutachten 2019/’20 sehen die Wirtschaftsweisen somit keinen akuten Handlungsbedarf für ein Konjunkturpaket. Die Finanzpolitik sei ohnehin expansiv. Die Regierung solle die sozialen Absicherungen wirken lassen und falls nötig die „schwarze Null“ im Budget aufgeben. Mit Kurzarbeit und einem neuen Qualifizierungsgesetz gebe es Rezepte gegen steigende Arbeitslosigkeit.

Und was ist mit dem viel beschworenen deutschen Investitionsrückstau? Ja, den gebe es, sagte Truger in Wien. Er müsse aber langfristig aufgelöst werden. Zur kurzfristigen Belebung eigne sich das nicht, zumal auch die Bauindustrie kaum freie Kapazitäten hätte. Truger sieht die deutsche Schuldenbremse kritisch, die europäischen Regeln würden Deutschland aber auch so finanzielle Spielräume für „Extrahaushalte“ zugestehen.

Österreich stehe besser da, ergänzte Arbeiterkammer-Ökonom Markus Marterbauer. Wollte Deutschland dieselbe Investitionsquote erreichen, müsste es 30 Milliarden Euro pro Jahr mehr in die Hand nehmen. Allerdings fordert er mehr Geld für das Arbeitsmarktservice (AMS), speziell für ältere Personen, wo die Arbeitslosigkeit seit 14 Monaten steige. Derzeit sei auch kein Geld für Kurzarbeit budgetiert – der Abbau von Leiharbeitern in der Industrie sei ein Warnsignal: „Wir gehen in diesen Abschwung mit 90.000 Arbeitslosen mehr, als es vor der Krise 2008 waren.“

„Zu viel Verantwortung“

Truger verteidigte indes den viel gescholtenen Ex-EZB-Chef Mario Draghi: „Ich kann seinen Hilferuf gut nachvollziehen.“ Der Italiener hatte – ebenso wie Nachfolgerin Christine Lagarde – von den Eurostaaten eine aktivere Fiskalpolitik gefordert. Das würde die raschere Rückkehr zu normaler Geldpolitik ermöglichen. Truger sieht das ähnlich: Die Politik habe zu viel Verantwortung bei der EZB abgeladen – deren Niedrigzinspolitik sei angemessen. Das jetzige Wiederaufleben der Anleihenkäufe halte er aber für verfrüht. HSP

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