36.000 Seiten
Derzeit werde Nachhaltigkeit in der EU in mehr als 100 Verordnungen und Richtlinien geregelt, auf in Summe 36.000 Seiten. Niemand mehr könne alle diese Informationen aus allen EU-Ländern überhaupt noch erfassen. Die Nachhaltigkeits-Berichterstattung koste alleine die VIG-Gruppe 50 Millionen Euro.
Manche Versicherungskonzerne würden wegen der überbordenden EU-Regulierung bereits überlegen, ihren Sitz außerhalb der EU zu verlegen. So hat der niederländische Lebensversicherer Aegon seinen juristischen Sitz auf die Bermudas übersiedelt.
Just am selben Tag, an dem die Kommission die Entbürokratisierung ankündigte, wurde ein neues EU-Regelwerk für die Abwicklung von Versicherungen beschlossen. Dessen Sinnhaftigkeit man heftig bezweifeln dürfe. Löger erinnerte daran, dass die letzte Versicherungspleite in Österreich der Konkurs der Phönix-Versicherung in der Zwischenkriegszeit war. Es habe lediglich einige Versicherungsinsolvenzen in Rumänien gegeben, deren Ursachen aber hausgemacht gewesen sei und wofür eine stärkere Aufsicht gereicht hätte.
Aber auch die Deregulierung sollte durchdacht sein, warnt Löger. Beispiel Lieferketten-Gesetz. Werden kleinere Unternehmen von Berichtspflichten befreit, würden die großen Unternehmen noch stärker belastet. Denn diese müssten ihre kleineren Lieferanten zur Bekanntgabe der Daten verpflichten. Der VIG-Chef hofft, dass die Entbürokratisierung nicht wieder über zusätzliche Verordnungen und Vorschriften erfolge.
Wie aber konnte es überhaupt zu dieser Regulierungswut in der EU kommen? Zu wenig Entscheidungsträger mit Erfahrungen in der Politik und in der Wirtschaft vermutet Löger, „zu wenig Austausch“. Er war während der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs Finanzminister, parteifrei, wie er betont.
Löger, der sich als „überzeugter Europäer“ definiert, spricht sich für eine grundsätzliche Reform der EU aus. Für Europa müsse man nicht nur die Regeln diskutierten, „sondern auch die Strukturen. Welche Entscheidungen auf welche Ebene gehören“. Er stimme dem Prinzip der Subsidiarität hundertprozentig zu, „aber wir brauchen eine klare Definition, für welche Themen“. Die EU sollte sich besinnen, für welche grundlegenden Themen eine klare Verantwortung auf europäischer Ebene notwendig sei. Das sollten die großen Themen sein wie Verteidigung, innere Sicherheit, eine gemeinsame Außenpolitik und die Basis-Infrastruktur, etwa ein einheitliches europäisches Bahnnetz. Sowie die Kapitalmarkt-Union. Es gebe jedoch eine „Vielzahl an Themen, die nicht so relevant sind, dass sie in jedem EU-Land gleich beschlossen werden müssen“. Diese sollten wieder auf die nationalstaatliche Ebene zurückwandern.
Er wolle kein EU-Bashing betreiben, betonte Löger im Klub. „Aber es geht unendlich viel Geld verloren und hemmt sinnvolle, notwendige Investitionen“. Die Vereinigten Staaten von Amerika würden als Einheit gesehen, seien aber viel föderalistischer strukturiert als die EU. „Doch wenn es um große Themen geht, steht die Gemeinschaft im Vordergrund“.
Leistungsfähigkeit
Die Ambitionen eines Wirtschaftsprogramms der heimischen Regierung würden durch die budgetäre Ausgangslage stark eingeschränkt, attestiert Löger. Den dringendsten Reformbedarf hierzulande ortet er bei der Produktivität, sprich der Leistungsfähigkeit. Österreich liege bei der Produktivität stark zurück, die Entwicklung sei negativ. "Wenn unter Leistung eher mehrheitlich etwas verstanden wir, das man bezieht und nicht das, was man erbringt, ist das ein Alarmsignal", warnt Löger.
Reformbedarf ortet er auch bei der betrieblichen Altersvorsorge. Bei der Veranlagung solle es mehr Spielraum geben, die private Vorsorge brauche weitere Anreize, etwa eine Senkung der Versicherungssteuer.
Indirekt stellt Löger eine Erhöhung des gesetzlichen Pensonsantrittsalters in den Raum. Bei einem System, das auf die Lebenserwartung aufbaue und daraus die Finanzierbarkeit errechnet, müsse man reagieren, wenn sich der Zähler nach oben entwickle.
andrea.hodoschek@kurier.at
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