Verlieren wir die Beherrschung? Warum der Ton am Arbeitsplatz immer rauer wird

Verlieren wir die Beherrschung? Warum der Ton am Arbeitsplatz immer rauer wird
In Politik und Unternehmen scheint das Klima rauer zu werden, Negativ-Beispiele gibt es genug. Sind das Ausnahmen oder ist das der neue Stil?

Zusammenfassung

  • Das Klima in Politik und Unternehmen wird rauer, mit Vorfällen von verbalen Angriffen und schlechtem Umgangston.
  • Negativ-Beispiele aus Unternehmen gibt es aktuell einige: Von Influencerin Matilda Djerf bis Sternekoch Konstantin Filippou.
  • Zunehmend unsichere Arbeitsbedingungen verschärfen die Lage, während Arbeitnehmer ihren Marktwert als Druckmittel nutzen.
  • Wie das Arbeitsrecht schützt und worauf sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer berufen können.

In Ungarn bezeichnet der Regierungschef politische Gegner als Wanzen. In den USA setzt ein Präsident dem anderen Präsidenten verbal das Messer an den Hals. In Serbien fliegen Eier durchs Parlament, Rauchbomben werden gezündet. In Deutschland wird einem Politiker eine Rasierschaumtorte ins Gesicht geworfen. Und in Österreich brauchen die obersten Staatsleute eine Rekordzeit von 155 Tagen, um sich auf den gemeinsamen Nenner zu verständigen.

Doch es ist nicht nur die Politik, wo der zwischenmenschliche Umgang zu wünschen übrig lässt. Auch in Unternehmen scheint das Klima rauer zu werden. In Schweden wird Influencerin und Unternehmerin Matilda Djerf vorgeworfen, Mitarbeiter zu mobben und zu beleidigen – und ihnen zu verbieten, öffentliche Verkehrsmittel oder ihre Toilette zu benutzen (beides unhygienisch). In Österreich deckt die Wiener Zeitung grobe Missstände in Gastronomie-Betrieben auf. 

Zuletzt bei Sternekoch Konstantin Filippou. Er soll nicht nur Gäste mit Ware geringerer Qualität getäuscht, sondern auch Mitarbeiter beschimpft und erniedrigt haben. Filippou bestätigt, in Stressmomenten Ausdrücke zu verwenden, die hier keinen Platz finden sollen. Ein „verschwenderischer Umgang mit Lebensmitteln oder auch unsaubere Arbeitsweise“ würden ihn besonders aufregen, rechtfertigt er in einem Interview im Der Standard. Und versichert, an sich zu arbeiten. Die Frage stellt sich: Sind das Ausreißer? Oder haben wir zunehmend die Beherrschung verloren?

Statistisch lässt sich das nicht beantworten. Die Arbeiterkammer (AK) führt nicht Buch darüber, welche Themen wie häufig bei ihnen einlangen. Eine Verbesserung des Arbeitsklimas wird jedoch nicht wahrgenommen, erklärt AK-Juristin Biljana Savić. Arbeitnehmer würden häufig von nicht wertschätzendem Umgang berichten, wobei zu erwähnen ist, dass despektierliches Verhalten natürlich auch von unten nach oben passieren kann.

Eine Branchenfrage wäre ein rauer Umgangston längst nicht mehr, führt Savić aus. Traditionell betroffen wären Hotellerie und Gastronomie, Reinigungsgewerbe, Bau sowie das Kleintransportgewerbe. Aber auch Angestellte in Büros und im Handel würden zu diesem Thema regelmäßig bei der AK vorsprechen.

Doch nicht nur ein harscher Tonfall ist ein Indiz dafür, ob der Arbeitsmarkt zunehmend verroht, merkt Soziologe Jörg Flecker der Universität Wien an. Es gebe eindeutigere Merkmale, die auch wissenschaftlich erfasst sind.

Zunehmende Ausbeute

„Wenn wir von Anerkennung und Wertschätzung sprechen, geht es nicht nur darum, wie miteinander geredet wird“, führt Flecker aus. „Es drückt sich aus in unbefristeten oder befristeten Verträgen, in der Höhe der Gehälter und ob Menschen zu einer Organisation dazugehören oder über Leihfirmen beschäftigt sind“, sagt er. In Bereichen wie dem Journalismus wären freie Verträge schon lange gängige Praxis. In anderen Sektoren, etwa im öffentlichen Dienst, würde seit zehn Jahren eine Verschlechterung wahrgenommen werden, so Flecker. Praktika und Leiharbeitskräfte würden das Image vom sicheren Arbeitsplatz unterwandern. „Da hat sich massiv etwas verändert, es gibt viel mehr Prekarität.“

Auch Paketzusteller würden heute „alle scheinselbstständig sein“, keine Sicherheiten wie einst bei der Post genießen, ergänzt Flecker. Ein Phänomen, das sich auf Lieferdienste ummünzen lässt. Erst diese Woche wurde bekannt, dass Zusteller Lieferando alle Rider kündigt und die gesamte Logistik auf freie Dienstverträge umstellt.

Dass sich Arbeitsbedingungen in angespannter Wirtschaftslage verschärfen und verschlechtern können, überrascht nicht. Und könne sich noch weiter zuspitzen, je länger die Rezession dauert, vermutet der Soziologe. Doch auch auf menschlicher Ebene zeigen anspruchsvolle Phasen ihre Wirkung. 

Der gereizte, leicht irritierbare Mensch

„Die Unsicherheiten der vergangenen fünf bis sieben Jahre haben den Menschen verändert“, beobachtet Wirtschaftspsychologin Evelyn Summhammer. Wir wären angespannter, könnten weniger in die Zukunft blicken und an Zielen arbeiten, führt sie aus. Das Ergebnis: Der Mensch wäre gestresster, was wiederum zwei Reaktionen hervorruft: Flucht (psychische Erkrankungen und der Gebrauch von Suchtmitteln nehmen zu) oder Aggression. „Das spüren wir auch in den Unternehmen, dass die Toleranz anderen gegenüber geringer geworden ist“, erklärt die Psychotherapeutin.

Verlieren wir die Beherrschung? Warum der Ton am Arbeitsplatz immer rauer wird

Kraftausdrücke vom Sternekoch

Wer in der obersten Liga kochen will, muss vieles in Kauf nehmen. Konstantin Filippou dürfte dieses Privileg zu sehr ausgereizt haben. Acht Mitarbeiter erhoben schwere Vorwürfe gegen den Starkoch. Er soll nicht nur Gäste täuschen, sondern die Belegschaft erniedrigen, beschimpfen. Filippou bezog kürzlich in einem Interview Stellung: „Ich möchte als nächsten Schritt ein Coaching machen, um meine Trigger besser kennenzulernen und meine Emotionen in entsprechenden Situationen besser regulieren zu können.“ 

Neues Kräftemessen

„Wir sind gereizter, fühlen uns schneller angegriffen.“ Unverhältnismäßige Eskalation kann die Folge sein. Befördert durch fehlende Vorbilder, so Summhammer. Oder warum sollte man sich am Riemen reißen, wenn es nicht einmal die obersten Staatsleute versuchen?

Sich mit verbalen Ausdrücken oder dreistem Verhalten zu messen, wäre letztlich immer eine Form von Machtdemonstration, führt Evelyn Summhammer aus. Und das passiert aktuell auf beiden Seiten. Während Arbeitgeber aufgrund der wirtschaftlichen Lage mit Stellenabbau oder Vertragsverschlechterungen drohen, würden Arbeitnehmer, insbesondere in Fach- und Mangelberufen, ihren Marktwert verstärkt als Druckmittel nutzen. Nach dem Motto: „Man kann mich nicht kündigen, weil man mich braucht.“ Das berichtet auch eine Hotelbetreiberin dem KURIER, die anonym bleiben will. Sie wies einen Koch auf ein Fehlverhalten hin und wurde daraufhin mit einer wüsten Beschimpfung (dieselbe, die Filippou verwendete) zum Schweigen gebracht.

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Tyrannei im Mode-Unternehmen

Matilda Djerf ist „Everybody’s Darling“. Die Schwedin begeistert mit ihrer süßlich, liebevollen Art und ihrer Wallemähne rund drei Millionen Follower auf Instagram. Doch dann der Schock: Eine Dokumentation enthüllte, wie sie mit Mitarbeitern ihres Modelabels „Djerf Avenue“ umging. Zusammengefasst: Nicht gut. Gar nicht gut. Nach einer kurzen Schockstarre meldete sich Djerf zu Wort. Mit einer Entschuldigung und der Zusicherung, an sich zu arbeiten. Follower verloren hat die Unternehmerin dadurch kaum.  

Die Contenance wahren

Gefallen lassen muss sich ausschreitendes Verhalten weder die eine noch die andere Seite – egal, wie anspruchsvoll eine Situation gerade sein mag. Das regelt auch das Arbeitsrecht (siehe Kasten unten). „Einen emotionalen Wutausbruch, den man auf andere ablädt, kann man nicht rechtfertigen“, führt Summhammer aus. „Wut ist ein innerer Prozess, der aus vielerlei Faktoren entsteht. Das bietet aber nie die Legitimation für aggressives Handeln – ob verbal oder körperlich“, stellt die Psychotherapeutin klar.

Wer selbstreflektiert ist, nimmt sich rechtzeitig aus einer schwierigen Situation heraus. „Wenn ich merke, dass mir der Geduldsfaden reißt, bin ich ein Risikofaktor für destruktives Verhalten“, definiert Summhammer. „Dann muss ich mich selbst managen, aus dem Raum gehen, mich emotional abkühlen und in die Contenance kommen.“ Legt ein Hitzkopf diese Fähigkeit nicht an den Tag, gibt es noch eine weitere, effektive Möglichkeit, diese Person wieder zur Besinnung zu bringen: um ein Vier-Augen-Gespräch bitten und klare Grenzen setzen.

„Der Mensch geht so weit, wie er gehen kann“, sagt Summhammer. Die Verantwortung, Grenzen zu wahren, würde auf beiden Seiten liegen. Aus dem Job flüchten, bevor man für sich eingestanden hat, würde die Psychotherapeutin nie empfehlen. „Es ist davon auszugehen, dass in jedem Unternehmen Menschen sind, die narzisstisch oder aggressiv sind. Hat man aber einmal die Erfahrung gesammelt – ich wehre mich, trete für mich ein – hat man eine positive Entwicklung gemacht.“

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