Pfarrerin Julia Schnizlein: "Bauen gerade in Wien massiv Personal ab"
 
            
            Bis zu 500 Menschen sammeln sich an diesem Morgen in der Lutherischen Stadtkirche in der Wiener Dorotheergasse. Hunderte werden sich via Stream zuschalten. Julia Schnizlein führt durch den Gottesdienst am Reformationstag – einer der wichtigsten Feiertage für die evangelische Gemeinde. Seit fünf Jahren ist die ehemalige Journalistin hier Pfarrerin, absolvierte zuvor das Studium und das Vikariat (Praxisausbildung), um dann zu erkennen: Die Arbeit in der Kirche ist doch ganz anders als erwartet.
KURIER: Seit fünf Jahren sind Sie ordinierte Pfarrerin. Ist der Job so, wie Sie ihn sich vorgestellt haben?
Julia Schnizlein: Womit ich nicht gerechnet hätte, ist, wie viel Management-Tätigkeit es ist. Wir studieren sechs, sieben Jahre lang Theologie, dann haben wir die praktische Ausbildung, da bekommt man schon einen Einblick, dass es mehr ist als nur Predigten schreiben. Aber dass man eine Finanzexpertise braucht, sich im Bau auskennen muss, ein kleines Unternehmen leitet, Personal führen muss … das macht zwar schon Spaß, ist aber definitiv nicht das, wofür wir ausgebildet sind.
Man erwartet zutiefst Menschliches vom Beruf und dann ist es doch viel Wirtschaft und Bürokratie?
Genau, wir sind wie ein kleiner Betrieb, müssen uns selbst verwalten. Wir haben Einnahmen, Ausgaben und es ist immer in Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen. Trotzdem läuft alles bei den Pfarrerinnen und Pfarrern zusammen. Wenn vom Altar wieder ein Teil runterkommt, weil er eigentlich dringend restauriert werden müsste, dann sagen die Menschen das mir. Dann muss ich schauen: Wo bewahren wir das Teil auf, wie kommen wir an einen Restaurator, ich hole Kostenvoranschläge ein und bespreche mit dem Team, was wir jetzt tun. Auch wenn Größeres ansteht und zum Beispiel das Dach leckt. Hier muss ich überlegen, ob wir uns das leisten können. Wir sind für das Gebäude zuständig, für die Menschen, die Finanzen. Das bindet Zeit.
Finden Sie das schade?
Natürlich ist das Schönere, Predigten schreiben, verkündigen, Seelsorge, überhaupt die Menschen begleiten. Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen liebe ich auch.
 
            
            
            Die Lutherische Stadtkirche ist die älteste evangelische Kirche Wiens. Schnizlein ist seit fünf Jahren hier ordinierte Pfarrerin.
Wie sieht ein Tag als Pfarrerin aus?
Es beginnt vielleicht mit einem Seelsorge-Anruf, dann telefoniere ich eine Stunde. Dann haben wir eine Dienstbesprechung, wo es konkret darum geht: Wie viele Hostien haben wir noch, wie viel Wein für den Reformationstag, wer hilft in der Organisation? Dann stehe ich auf dem Friedhof, beerdige jemanden, bin für die Familie da. Am Nachmittag telefoniere ich mit dem Bezirksvorsteher oder mit Grätzl-Polizisten, wenn wieder irgendetwas war. Abends stehe ich mit 60 Konfis (Konfirmanden, Anm.) im Hoodie beim Altar. Das Spektrum ist groß und man weiß nie genau, was kommt.
Sie sagen, das hier ist wie ein kleiner Betrieb. Unternehmen möchten Kunden an sich binden, die Kirche Gemeindemitglieder. Wie viel Arbeit steckt da dahinter?
Natürlich kriegen wir die Austritte mit, jeder tut weh. Wir merken, dass viele wegen des Kirchenbeitrags gehen. Manchmal ist es wirklich so, dass sich die Menschen diesen nicht leisten können. Da wollen wir auch helfen. Wir haben ein Modell entwickelt, mit dem wir Menschen, die gerne etwas geben möchten, dazu animieren, Kirchenbeitragspate zu werden. Das geht auch anonym.
Also geht es eher darum, Kirchenmitglieder zu halten statt zu akquirieren.
Wir wollen jedes Mitglied behalten und vor allem auch die erreichen, die nicht am Sonntag kommen. Ich finde es immer toll, wenn Menschen trotzdem evangelisch sind. Wenn sie ihren Beitrag zahlen, auch wenn sie aktuell nichts von der Kirche haben, weil sie gerade keine Zeit dafür haben oder im Moment nicht heiraten wollen. Wir versuchen sie dennoch zu erreichen, schreiben jedem einzelnen Mitglied handschriftlich zum Geburtstag. Wir wollen zeigen: Wir sind dankbar, dass es dich gibt und es ist nicht beliebig, ob du dabei bist.
Letztlich wird aus einem großen Anteil der Kirchenbeiträge auch Ihr Gehalt finanziert. Kommt es aufgrund der Austritte zu Personalkürzungen?
Das ist so, in Wien bauen wir gerade ziemlich massiv ab. Wir waren in Wien sehr gut aufgestellt, aber jetzt müssen wir einsparen. Es gibt im Moment Fusionen von Gemeinden, was auch sinnvoll ist. Das ist in der katholischen Kirche genauso.
Die Ausbildung: Voraussetzung ist das Studium der Evangelischen Theologie inklusive Praktika. Schon währenddessen meldet man sich bei der Personalstelle der Evangelischen Kirche. Danach beginnt die Zeit des Lehrvikariats (Religionsunterricht, Predigerseminar) sowie Praxiserfahrung in einer Pfarrgemeinde. Das dritte Jahr der Ausbildung ist das Pfarramtskandidatenjahr, das mit der Pfarramtsprüfung abgeschlossen wird.
Das Gehalt: Gehälter von Pfarrerinnen und Pfarrern unterliegen einem Kollektivvertrag. Im ersten Jahr der Ausbildung (Vikariat) steht ihnen ein Gehalt von 2.673 Euro brutto pro Monat zu, als Pfarramtskandidat (drittes Ausbildungsjahr) sind es 3.195 Euro brutto. Das Grundgehalt für vollbeschäftigte Dienstnehmer startet bei 3.584 Euro brutto. In der Regel werden außerdem Dienstwohnungen zur Verfügung gestellt, weil sie in der Nähe der Gemeinde wohnen sollen.
Gibt es genug Nachwuchs oder hat auch die Kirche einen Arbeitskräftemangel?
Ich glaube schon, dass einige da sind. Viele wollen in die Stadt, aber wir haben einige freie Stellen am Land. Das ist dann ein Problem, die besetzt zu kriegen.
Sie kommen aus dem Journalismus, aus einem Bürojob – ein ähnliches Leben oder ganz anders?
Was ich unterschätzt habe, ist, dass dieser Job so gar nicht nine to five ist. Das ist im Journalismus auch schon schwierig und trotzdem hat man das Gefühl, dass die Arbeit irgendwann beendet ist. Hier habe ich nie das Gefühl, fertig zu sein. Ich trage auch viel nach Hause, dadurch, dass ich viel digital mache. Da muss ich sehr an mir selber arbeiten, dass ich nachts nicht mein Instagram aufmache und eine Seelsorge-Anfrage beantworte.
Können Sie Ihre frühere Berufserfahrung jetzt nutzen?
Weil ich aus dem Journalismus komme, denke ich wie in Leserzahlen. Ist eine Predigt eine gute Cover-Geschichte oder wie erreiche ich mehr Menschen? Das macht mir Spaß. Wir platzen am Wochenende nicht aus allen Nähten, aber wenn es unter hundert Menschen sind, bin ich schon frustriert. Wir streamen jeden Gottesdienst, das habe ich eingeführt, da schauen zwischen 300 und 500 Leute zu. Wenn sie ein Like dalassen, empfinde ich das als Erfolg.
Mit 1. Jänner 2026 ist mit Bischöfin Cornelia Richter erstmals eine Frau an der Spitze der heimischen Evangelischen Kirche – hegen Sie selbst Ambitionen wie diese?
Ich habe das Riesenglück, bei einer ganz attraktiven Pfarrstelle zu sein. Ich hatte im letzten Jahr verschiedene Angebote, habe aber abgelehnt, weil ich im Moment wirklich glücklich auf dieser Stelle bin. Ein anderer Posten würde mir jetzt nichts geben.
Wie viel Wahlfreiheit hat man bei der Pfarrstelle?
Es ist keine Zuteilung, es ist eine Wahl, aber man muss das Glück haben, dass eine Stelle frei ist. Ich hatte dieses Glück, dass meine Vorgängerin, die meine Seelsorgerin war, die mich getraut hat, meine Kinder getauft hat, in Pension gegangen ist. Dann war ich hier ein Jahr zur Probe, die Stelle wurde ausgeschrieben, ich habe mich beworben und bin jetzt für zwölf Jahre gewählt. Meine Vorgängerin war dreißig Jahre hier.
Zur Person:
Die Pfarrerin studierte Evangelische Theologie, arbeitete dann 14 Jahre im Journalismus – schrieb für die APA, Magazine sowie Tageszeitungen. 2017 schlug sie einen neuen Karriereweg ein und begann die praktische Ausbildung zur Pfarrerin. Heute hat sie einen Digitalauftrag von der evangelischen Kirche, ist Kolumnistin und auf Instagram unter dem Namen juliandthechurch aktiv.
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