Star-Autor im Interview: Warum wir harte Arbeit für den Erfolg überschätzen

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Für den Erfolg müsse man zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, meint Bestseller-Autor Malcolm Gladwell. Doch auch das ist nicht nur Zufall.

Malcolm Gladwell ist ein internationaler Star. Das wird spätestens nach einer ersten Recherche deutlich. Es gibt kaum ein Format, in dem der Journalist, Podcaster und Autor von fünf „New York Times“-Bestsellern nicht zu sehen war: Trevor Noah, Larry King, Jimmy Kimmel, Stephen Colbert, Joe Rogan – das Who‘s who der englischsprachigen Medienwelt hat ihn interviewt.

Ausschlaggebend war ein Buch, das er vor rund 25 Jahren veröffentlichte: „Tipping Point“ (Der Kipppunkt). Seine These: Kleine Auslöser können große gesellschaftliche Veränderungen bewirken. „So wie eine einzelne kranke Person eine Grippewelle auslösen kann, genügt oft ein winziger, gezielter Schubs, um die Welt zu verändern“, heißt es im Klappentext des Buches.

Der KURIER konnte Gladwell telefonisch interviewen. Im Gespräch erklärt er, was berufliche Kipppunkte sind und wie sie für den Erfolg genutzt werden können.

KURIER: Herr Gladwell, Sie schreiben, dass gesellschaftliche Veränderungen oft durch eine Mischung aus Fügung und kleinen Auslösern ins Rollen kommen. Gilt das auch für Karrieren? Wie viel davon ist Strategie und wie viel Zufall?

Malcolm Gladwell: Natürlich könnte ich jetzt alle Faktoren aufzählen, die zum Erfolg beitragen: Talent, harte Arbeit, Timing, Glück. Die Frage ist, ob diese Faktoren angemessen gewichtet werden. Welchen prozentualen Anteil haben sie am Erfolg? Wie viel davon ist Talent, wie viel harte Arbeit? Ich persönlich glaube, dass Glück und gutes Timing mehr zählen, als wir es in unserem herkömmlichen Verständnis von Erfolg annehmen.

Sprechen Sie aus Erfahrung?

Ja. In den späten 1980er-Jahren habe ich bei der Washington Post angefangen, einem profitablen Unternehmen in Amerika. Dann ging ich zum New Yorker, in der Blütezeit des Magazin-Geschäfts, als das Geld unbegrenzt war und der kulturelle Einfluss außergewöhnlich. Ins Buch-Publishing kam ich zu einer Zeit, als es plötzlich einen Appetit auf anspruchsvolle Sachliteratur gab. Und jetzt bin ich im Podcasting während des Podcast-Booms. Ich habe keinen dieser Momente gewählt, es ist einfach passiert. Jeder meiner Karriereschritte ist mit einer Explosion genau dieses Markt-Typs zusammengefallen. Das ist einfach Glück.

Ist es Glück oder haben Sie sich unterbewusst zu vielversprechenden Branchen hingezogen gefühlt?

Vielleicht ein bisschen – aber es waren sicherlich keine bewussten Entscheidungen. Ich habe mich nicht hingesetzt und es genauso geplant. Die Gründe, warum ich mich beruflich verändert habe, waren idiosynkratisch (Anm.: eigentümlich): Ich wollte in New York bleiben oder war gelangweilt. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich das alles durchschaut habe. Aber das stimmt nicht. Ich habe wirklich einfach eine Glückssträhne gehabt.

Ihr Buch „Tipping Point“ ist bereits 25 Jahre alt – gelten Ihre Theorien der kleinen Auslöser auch heute noch, besonders im Hinblick auf die Business- und Tech-Welt?

Ich denke, dass nur sehr wenige Menschen in der Tech-Welt das Ausmaß ihres Erfolgs je richtig vorhersehen können. Wenn man 1990 Bill Gates oder 2010 Mark Zuckerberg gefragt hätte, wie groß ihr Unternehmen werden würde, hätten sie sich massiv verschätzt. Ich glaube, sie wussten, dass sie eine gute Idee hatten, die es wert war, verfolgt zu werden. Aber ich glaube nicht, dass sie sich je vorgestellt haben, dass daraus so außergewöhnliche Unternehmen entstehen würden.

Woran liegt das?

Wenn wir uns einen kleinen, spezifischen Bereich anschauen, ist es einfach zu sehen, welchen Einfluss das haben könnte. Was wir nicht sehen – und auch nicht sehen können – sind diese Multiplikatoren. Bei Facebook zum Beispiel: Niemand wusste, dass Menschen sich auf nur wenige soziale Plattformen konzentrieren würden. Dass es ein „Winner-takes-All“-Markt wird. Kipppunkte sind schwer vorherzusehen.

Lässt sich die Logik der Kipppunkte dennoch auf die eigene Karriere übertragen?

Es ist keine Formel. Aber wir können einige dieser Ideen nutzen, um bewusster zu handeln und zu überlegen, wohin wir unsere Energie lenken. Ein großer Teil des ursprünglichen Buches handelt davon, soziale Macht zu verstehen. Macht liegt nicht nur in formalen Hierarchien, sie liegt auch darin, menschliche Interaktionen zu steuern. Es geht um innere Gedanken, Autorität, Information und zwischenmenschliche Verbindungen. Das ist es, was meiner Meinung nach die Art und Weise prägen könnte, wie Menschen ihre Karriere verfolgen.

Sie schreiben, dass man umso mächtiger ist, je mehr Bekanntschaften man hat. Geht es dabei nicht auch vor allem darum, die „richtigen Leute“ kennenzulernen?

Es ist schwer zu wissen, wer die richtigen Leute sind. Deswegen ist es besser, breit zu streuen. Und außerdem sind gerade zufällige Begegnungen und Beziehungen oft die wertvollsten. Das größte Problem bei sozialen Beziehungen ist, dass viele dazu neigen, redundante Beziehungen aufzubauen. Sich mit Menschen zu treffen, die dieselbe Wissensbasis und dieselben Verbindungen haben, hilft einem nicht weiter. Was man wirklich braucht, ist jemand außerhalb des eigenen sozialen Kreises. Um den Soziologen Mark Granovetter zu zitieren: „The strength of weak ties“ (Anm.: Die Stärke schwacher Verbindungen). Menschen, die man nur flüchtig kennt, sind letztlich nützlicher als enge Bindungen.

Und leichter aufrechtzuerhalten.

Ich glaube nicht, dass irgendetwas davon unbedingt einfach ist. Uns wird kein simpler Algorithmus für Erfolg mitgegeben. Was für die Entwicklung der eigenen Karriere und des eigenen Wissens am nützlichsten ist, ist oft genau das, was man am schwersten erreichen kann. Wir sind sehr gut darin, enge Beziehungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Viel schwieriger ist es Menschen außerhalb unserer eigenen Welt zu begegnen. Aber die Mühe lohnt sich.

Was ist Ihrer Meinung nach der stärkste „Hebel“ für den Erfolg: ein großes Netzwerk, außergewöhnliche soziale Kompetenzen?

Wir befinden uns in einem enormen Veränderungsprozess. In einer Welt, in der KI plötzlich eine viel größere Rolle spielt, denke ich, dass auf dem Arbeitsmarkt ganz andere Dinge geschätzt werden. Jemand zu sein, mit dem man gut zusammenarbeiten kann, der über ein tiefes persönliches Netzwerk verfügt, wird wichtiger werden. Spezifische Expertise könnte deswegen an Bedeutung verlieren. Denken Sie an Ärzte. KI ist ein viel besserer Diagnostiker. In Zukunft muss ein Arzt also nicht mehr über besondere diagnostische Fähigkeiten verfügen. Was er stattdessen braucht, ist die Fähigkeit, mit Patienten eine Verbindung aufzubauen und herauszufinden, was sie besorgt. Soziale Fähigkeiten werden da viel wichtiger. Das ist ein gutes Modell dafür, wie sich viele Berufe entwickeln werden.

Sie sprechen in Ihrem Buch auch vom „Gesetz der Wenigen“. Es soll besondere Leute mit besonderen sozialen Fähigkeiten geben – kann jeder Teil dieser Gruppe sein?

Das sind meist Rollen, die in unserem Charakter und unserer Persönlichkeit verankert sind. Was nicht heißt, dass man keinen Einfluss darauf haben kann. Aber jemand, der beispielsweise ein Netzwerker ist, hat eine Art von ausgeprägter Geselligkeit, die man nur schwer selbst entwickeln kann.

Wie wirkt sich das auf die beruflichen Erfolgschancen aus? Kann trotzdem jeder erfolgreich sein?

Wenn wir Erfolg im Sinne von Karrierefortschritt definieren, nein. Dafür gibt es einen zu harten Wettbewerb um eine zu kleine Anzahl von Positionen. Wenn wir Erfolg aber als Lebenszufriedenheit definieren, habe ich eine andere Antwort. Versteht man unter Erfolg nämlich eine Arbeit, die herausfordert und in der man für seine Anstrengungen Anerkennung bekommt, dann ist das ein sehr erreichbares Ziel.

Wenn Sie heute als junge Person in den Arbeitsmarkt einsteigen müssten, was würden Sie anders machen?

Ich würde im Ausland studieren, sehr viel mehr reisen und sogar meinen ersten Job in einem anderen Land annehmen.

Warum?

Ich denke, dass man in seinen Zwanzigern seine Erfahrungen erweitern sollte. Man muss eine breite Basis aufbauen, um eine maximale Zahl an Möglichkeiten zu haben. Und das geht am schnellsten, wenn man sein Heimatland verlässt. Dadurch gewinnt man eine völlig neue Reihe an Einflüssen und Kontakten – ohne etwas von zu Hause aufgeben zu müssen. Freunde bleiben immerhin Freunde, auch wenn man nicht mehr im selben Land lebt und seine Komfortzone verlässt.

Was ist die größte Hürde auf dem Karriereweg?

Zu wissen, wo man sich in seiner Karriere befindet. Wir übernehmen viel zu früh die Denkweise von Menschen, die sich bereits in der Mitte ihrer Karriere befinden. Viele sind zu Beginn ihrer Laufbahn viel zu risikoavers. Sie verhalten sich mit 25 Jahren so, wie sie sich mit 45 verhalten sollten. Dabei ist das Risiko, wenn man in seinen Zwanzigern scheitert, sehr gering. Erst mit Familie, Haus und Kindern ändert sich das. Aber bis dahin sollte man sogar große Risiken eingehen.

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Malcolm Gladwell: „Tipping Point“. Plassen. 384 Seiten. 24,50 Euro.

Was es mit dem „Kipppunkt“ auf sich hat

In seinem Buch „Tipping Point“ erklärt Malcolm Gladwell soziale Veränderungen, die durch kleine Anstöße entstehen. Er vergleicht solche abrupten Veränderungen in der Gesellschaft mit Epidemien. Einfach gesagt, ist der „Tipping Point“ (der Kipppunkt) der Moment, an dem sich plötzlich eine Idee, ein Produkt oder ein Verhalten massiv verbreitet. Diese „sozialen Epidemien“ werden laut Gladwell von drei zentralen Faktoren beeinflusst:

  • Das Gesetz der Wenigen: Kleine Gruppen von einflussreichen Personen sollen maßgeblich zum Kipppunkt beitragen. Gladwell beschreibt sie als Connectors (Vernetzer), Mavens (Wissensvermittler) und Salesmen (Überzeuger). Diese  außergewöhnlichen Personen haben eine starke Wirkung auf den Rest der Gesellschaft.
     
  • Der Verankerungsfaktor:  Wichtig für das Lostreten eines Trends ist die Einprägsamkeit einer Botschaft („Stickiness Factor“)  – sonst bleibt sie nicht hängen. Dabei ist laut Gladwell nicht nur der Inhalt, sondern auch die Art der Vermittlung relevant.
     
  • Die Macht des Kontexts: Schlussendlich hängt unser Verhalten von der Umgebung und den Umständen ab. Je nach Kontext kommt eine Botschaft anders an – und kann zu einer sozialen Epidemie werden.

Die Schattenseite des Kipppunkts

Seither hat sich Gladwell das Thema erneut angesehen und konnte gewisse Lücken in seinen Ausführungen erkennen – besonders in Zeiten schneller technologischer Entwicklungen. Aus diesem Gedanken heraus ist vergangenes Jahr „Revenge of the Tipping Point“ erschienen. Darin spricht er von „neuen und beunruhigenden“ Formen sozialer Manipulation und von einer dunklen Seite der Epidemie-Theorie. 

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