Sind wir eine Last-Minute-Gesellschaft? Die Folgen der Schnelllebigkeit

Modern collage. Businessman trapped between clock hands surreal pressure concept
Aufschieben bis zur letzten Minute: Warum wir in der Arbeit immer öfter spät dran sind.

Freitag, 18 Uhr – und wieder trudelt eine Event-Anfrage ein. In weniger als einer Woche soll eine Veranstaltung auf die Beine gestellt werden. Solche Last-Minute-Aufträge sind nicht ungewöhnlich, berichtet Michaela Leithner, Managing Director bei Smile-Eventmanagement (ab Jänner 2026 SMILE & Arts), dem KURIER. Obwohl sie es gewohnt ist, binnen kürzester Zeit Events zu organisieren, fällt ihr auf, dass die Aufträge deutlich spontaner werden.

Davon sei nicht nur ihre Branche betroffen: „Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Die KI spuckt jegliche Information innerhalb von Sekunden aus. Alles ist schnell, jeder will alles auf der Stelle, und wenn es nicht gefällt, wird es weggewischt“, erklärt sie. Aber was macht diese Schnelllebigkeit, wenn alles noch auf den letzten Drücker gehen muss, mit uns – und mit unserer Arbeit? Werden wir zur „Last-Minute-Gesellschaft“?

Besser später erledigen

Eine Antwort hat Nora Hlous. Sie arbeitet seit 25 Jahren als Organisationspsychologin, war in verschiedenen HR-Positionen tätig und bestätigt: „Wir leben in einer Gesellschaft, die von Dringlichkeit geprägt ist.“ Alles muss sofort erledigt werden, weil alles Priorität hat. Der Druck ist also hoch und die Zeit knapp. Hinzu kommen – wie so oft – die Krisenzeiten und der Kostendruck der Organisationen. Personal werde eingespart und „Abteilungen, die früher drei Mitarbeiter hatten, haben nur mehr zwei. Die Aufgaben werden dadurch aber nicht weniger.“ Ganz im Gegenteil: Die Ansprüche werden höher. Dafür sorgen u. a. die sozialen Medien. „Man sieht, was andere machen und schöpft neue Ideen. Im Sinne von: Das könnten wir auch ausprobieren. Deswegen haben wir das Gefühl, immer ein bisschen nachzuhecheln“, meint Hlous.

Wie weit verbreitet dieser Druck bereits ist, erkennt Hlous an den Anfragen, die Firmen ihr zuschicken. „Früher hatte ich Anfragen zu Zeitmanagement, jetzt wollen Firmen Resilienz und die psychische Widerstandsfähigkeit stärken.“ Etwas, das die Organisationspsychologin kritisch sieht. Statt die Arbeitsbelastung im Rahmen zu halten, wolle man die Mitarbeiter stärken – keine dauerhafte Lösung, wie sie meint. Früher oder später würden die Mitarbeiter die Reißleine ziehen.

Wie sich das Last-Minute-Phänomen in der Arbeit zeigt? Monique Bogdahn, Autorin des Buchs „Aufschieben war gestern“, nennt das Stichwort Prokrastination. Ist zu viel zu tun, schiebt man auf. Wichtige Projekte werden bis zur letzten Minute hinausgezögert oder große Präsentationen erst kurz vor Fälligkeit vorbereitet. Statt zeitgerecht in die Gänge zu kommen, beschäftigt man sich indes mit Kleinkram, sagt Bogdahn: sortiert E-Mails, frischt den Kalender auf und rutscht in einen Teufelskreis. 

Sie beschreibt Prokrastination in diesem Fall als eine Art Überlebensstrategie. „Selbst der motivierteste Mensch kommt ins Straucheln, wenn er ständig überlastet ist und nie das Gefühl hat, wirklich voranzukommen.“ Das Aufschieben werde zu einem Schutzmechanismus. „Unser Gehirn ist evolutionär darauf ausgelegt, Energie zu sparen und möglichst in der Komfortzone zu bleiben. Das heißt: Sobald eine Aufgabe unangenehm, unklar oder herausfordernd wirkt, schaltet das Gehirn auf Vermeidung. Nicht, weil wir faul sind, sondern weil es uns damit schützen will.“ Immerhin könne man nicht dauerhaft auf Hochleistung laufen.

Das Arbeitsverhalten hängt aber noch von einem weiteren zentralen Faktor ab, weiß Organisationsberaterin und Leadership-Expertin Erika Kleestorfer.

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Aufschieben: Eine ansteckende Tendenz

Immer wieder würde Kleestorfer Organisationen erleben, die sich im Dauerstress befinden und bei denen jeder Tag eine Krise ist: „Da gibt es viele Last-Minute-Junkies, die unter Druck sogar aufblühen können – mit dem Preis der Erschöpfung“, sagt sie. Stress und unendlicher Workload werden hier mit Erfolg gleichgesetzt: „Manche denken, dass sie dauernd sagen müssen, wie viel sie zu tun haben, weil sie nur so zum Club der Erfolgreichen gehören“, sagt sie und spricht aus Erfahrung. „Ich habe früher oft erlebt, dass Kollegen um 18 Uhr auf ein Bier gegangen und um 20 Uhr nochmal zurück ins Büro gekommen sind, um den amerikanischen Kollegen zu zeigen, dass sie zu dieser späten Zeit immer noch arbeiten.“ 

Wie man mit Druck und steigenden Erwartungshaltungen umgeht, sei ihrer Meinung nach stark von der Organisationskultur abhängig. „Unsere Umgebung prägt unser Verhalten extrem“, stimmt Monique Bogdahn zu. Je nach Arbeitsumfeld kann man also auch in eine Last-Minute-Richtung gelenkt werden. „Wenn du zum Beispiel in einem Team arbeitest, in dem Entscheidungen ständig vertagt werden, Aufgaben nie ganz klar sind oder alles irgendwie irgendwann gemacht wird, dann überträgt sich das gern.“ Man passt sich an, übernimmt unbewusst diese Haltung und es entsteht ein kollektives „Wir kommen eh nicht voran“-Gefühl, erklärt die Autorin. „Prokrastination kann sich in einer Arbeitskultur wie ein Schleier über alles legen.“

Aber wie kommt man aus der Last-Minute-Spirale wieder raus?

So kommt man in Bewegung

Auf einer individuellen Ebene pendelt sich vieles mit Erfahrung ein, sind die Expertinnen sich einig (siehe Kasten oben). Man lernt, mit der Zeit besser mit dem Druck umzugehen und richtige Prioritäten zu setzen, sagt etwa Erika Kleestorfer. Organisationspsychologin Nora Hlous betont, dass Netzwerke dabei helfen, in die Gänge zu kommen: „Oft kommt man nicht ins Tun, weil man verunsichert ist. Mit einem guten Netzwerk weiß man, an wen man sich wenden soll und mit wessen Hilfe man Aufgaben bewältigen kann.“ 

Sie sieht auch die Führungskräfte klar in der Verantwortung: „Sie befinden sich zwar in einem ähnlichen Spannungsfeld, könnten aber viel tun, um die Situation zu verbessern“, meint Hlous. „Führungskräfte können die Belastungen ernst nehmen und schauen, was das Team jetzt braucht.“ Je nach Bedarf könne man Mitarbeiter etwa in die richtigen Schulungen schicken, damit sie sich kompetent und der Sache gewachsen fühlen.

Seitens der Organisation sollte laut Monique Bogdahn vor allem Klarheit geschaffen werden. „Wer ist wofür zuständig? Was ist wirklich wichtig und was kann weg?“ Viele Teams verlieren sich in Tausenden kleinen Aufgaben, aber niemand setzt den roten Faden. Niemand übernimmt den ersten Schritt bei Themen, die unbedingt angegangen werden müssen“, sagt sie. „Und wenn dann jemand plötzlich mit Klarheit, Fokus und Struktur hereinkommt, verändert das das ganze Klima. Plötzlich entsteht Bewegung.“

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