Jedes Wissen auf Knopfdruck: Was ist menschliche Intelligenz noch wert?

Für gewöhnlich steht in der Mitte des Tischs ein Wimpel. Eine kleine Fahne, von der das Wort Mensa prangt. Es ist das Erkennungszeichen, wenn sich die Hochbegabten am ersten Freitag jedes Monats im Wiener Studentenbeisl Käuzchen am Stammtisch treffen. An allen anderen Tagen hängen sie ihre überdurchschnittliche Intelligenz nicht an die große Fahne; diesmal auch nicht an die kleine – der Organisator hat den Tischbanner vergessen. Passiert den besten.
Obwohl die Autorin nur drei Minuten nach Beginn eintrifft, ist der halbe Tisch bereits besetzt. Pünktlichkeit wird hochgehalten, genauso wie der Alkoholverzicht am Stammtisch. Die Autorin ist die Einzige, die mit ihrer Bestellung (Bier) aus der Reihe an Säften (Apfel-Karotte) tanzt. Rund zwölf Personen nehmen an diesem Treffen teil. Eine überschaubare Gruppe, denn es ist nur ein Mensa-Treffen von vielen.
Mensa ist eine internationale Hochbegabten-Vereinigung und nur für Mitglieder mit einem IQ über 130 zugelassen. Also für die klügsten oberen zwei Prozent der Gesellschaft. In Österreich zählt der Verein aktuell 1.350 Mitglieder – so viele wie nie zuvor, heißt es. Im Oktober, im offiziellen Monat der Intelligenz, erhofft man sich noch mehr Zulauf, vergibt Aufnahmetests zum halben Preis.
Doch was bedeutet es, hochbegabt zu sein, in einer Zeit, in der die künstliche Intelligenz der menschlichen Konkurrenz macht? In der einer der weltbesten Mathematiker, Terence Tao, mittels ChatGPT ein bisher ungelöstes mathematisches Problem löste? Sind zunehmend andere Fähigkeiten gefragt, als „nur“ die akademischen? Das will der KURIER wissen und bekommt Antworten.
Unter Gleichgesinnten
Die Mitglieder am Stammtisch bevorzugen Diskretion. Sie wollen anonym bleiben, nicht fotografiert werden. Mit Hochbegabung angeben, kommt nicht gut. Da hat jeder schon seine Erfahrungen gesammelt. Hier in der Gruppe fühle man sich aufgehoben. Man ist per Du, den IQ vom anderen weiß dennoch keiner – das ist verpönt und macht laut dem Organisator, der seit seinem 15. Geburtstag Vereinsmitglied ist, „keinen Unterschied“.

Einmal monatlich treffen sich Mensa-Mitglieder am Stammtisch in Wien.
Es gehe nicht darum, sich mit Intelligenz zu messen, sondern sich auszutauschen, über Dinge zu unterhalten, die in herkömmlichen Begegnungen weniger Anklang finden und „in einer Gruppe von Leuten zu sein, die auf eine ähnliche Art anders ist“, sagt der eine und ein anderer widerspricht.
Ja, manches bei diesem Zusammensein schlägt von außen betrachtet in die „Nerd“-Kerbe (Streber, Anm.). Es wird in einem Buch mit dem Titel „Denken mit Spaß“ geblättert, über Rätsel und Fotografie diskutiert. Ab und zu fallen die Worte „Alien“ oder „Big Foot“. Dass alle Hochbegabten gleich ticken, Technik und Mathe gut finden, ist allerdings ein Mythos – das beweist nicht nur der Stammtisch, wo neben IT-Profis und einer TU-Studentin auch ein Pilot, ein Lokführer, ein Unternehmensberater und ein Selbstständiger, der in der Kultur stark vernetzt ist, sitzen, sondern auch die Wissenschaft.
Auf die 130-er Marke hat man sich irgendwann geeinigt – ab da beginnt die Hochbegabung. Statistisch erreichen etwa zwei Prozent der Bevölkerung diesen Wert. Selbiges gilt für einen niedrigen IQ von 70. Der Durchschnitt pendelt sich bei 85 bis 115 ein. Seriöse IQ-Tests gibt es viele (genauso wie unseriöse). Wissenschaftlich valide sind jene, die regelmäßig nachnormiert werden, erklärt Jakob Pietschnig der Uni Wien.
Während Vereine wie Mensa sich mit 130+ begnügen, gibt es auch weit selektivere Vereinigungen wie die Mega Society. Sie fordert einen IQ von über 170, das trifft auf eine Person unter einer Million zu. Experten betonen jedoch, dass IQ-Tests ab einer gewissen Höhe an Aussagekraft verlieren. Deshalb, weil nicht genug Vergleichspersonen existieren, ein Testergebnis durch eine einzige Antwort schnell verfälscht sein kann. Zuverlässige Daten soll es ca. bis zu einem IQ von 160 geben. Doch nicht immer braucht es einen Test, um herauszufinden, ob jemand besonders begabt ist, sagt Psychologin Birgit Hartel.
„Vieles lässt sich über Beobachtung herausfinden“, weiß sie aus der Zusammenarbeit mit hochbegabten Kindern. „Schwierig wird es nur, wenn Kinder schüchtern oder sensibel sind, sozial dazugehören wollen und ihre Begabung in der Außenwelt verstecken.“ Dann empfiehlt auch die Expertin, bei Verdacht einen Test zu machen. Wer sich schnell selbst testen will, kann das zum Beispiel mit dem Mensa-Vortest (einfach hier klicken).
Das sagt die Forschung
Der Mensch wird immer klüger (das ist der sogenannte Flynn-Effekt), doch noch nie war das Wissen kleinteiliger, spezialisierter als heute, erklärt Jakob Pietschnig, Intelligenzforscher an der Uni Wien. Das würde nicht zuletzt an unserem Bildungsangebot liegen. „War die Ausbildung früher noch sehr auf Generalistentum ausgelegt, wird man jetzt ermutigt, sich zu spezialisieren“, sagt er und gibt ein Beispiel: Gab es vor hundert Jahren nur sechs verschiedene Spezialisierungen von Ärzten, sind es heute 60.
„Der Mensch passt sich an die Umwelt an“, sagt Pietschnig. Was gebraucht wird, entwickelt sich weiter, was nicht gefragt ist, verkommt. „Darin liegt unser evolutionärer Erfolg begründet.“
Auch die Digitalisierung habe starke Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, zeigt die Forschung. Welche genau, wird noch ausgewertet. Klar ist aber: Intelligenz verändert sich. Und zwar in allen Disziplinen – ob sprachlich, mathematisch oder nonverbal (räumliches Denken, bzw. alles ohne Zahlen und Buchstaben). Das ist ein Vorteil, weiß Pietschnig, denn hochintelligente Menschen braucht es gerade überall. „Es ist völlig egal, in welches Berufsbild Sie schauen. Eine höhere kognitive Fähigkeit trägt Positives bei.“ Nur muss man sie auch erkennen.
Begabungen finden
Transparent nach außen kommunizieren schließlich nur wenige Hochbegabte ihr spezifisches Talent. Vielleicht weil sie es selbst nie mit einem Test belegt haben oder weil sie sich das Naserümpfen der anderen ersparen wollen. Auch von den Teilnehmern am Mensa-Stammtisch weiß der Arbeitgeber nur selten über die jeweilige Begabung Bescheid. Wobei es immer Ausnahmen gibt, die ihren IQ sogar in den Lebenslauf schreiben, sagt ein Mitglied.
Für Unternehmen und Chefs zahle es sich aber „definitiv aus, näher hinzuschauen“, spricht Birgit Hartel aus Erfahrung. Seit 2013 führt sie eine psychologische Praxis für Hochbegabung, arbeitet mit Eltern und ihren Kindern daran, Talente zu identifizieren und zu fördern. Sie weiß, dass eine hohe Intelligenz im Arbeitsleben zunächst ein „Booster“ sein kann. Denn Hochbegabte, egal in welchem Bereich, „sind offen für Informationen, können diese schnell verarbeiten und brauchen das Denken und Lernen, um sich gesund zu entwickeln.“ Vereinfacht bedeutet das, dass sich Hochbegabte in neuen Situationen schnell etwas erarbeiten können, doch „je länger sie in derselben Position sind, desto mehr holen andere auf“.


Nicht umsonst haftet Hochbegabten der Ruf an, Jobs häufig zu wechseln. Auch am Stammtisch erzählt eine Person, die erst seit Jänner Mensa-Mitglied ist, sicher schon zwanzig Jobs gehabt zu haben. Erst seit der Selbstständigkeit ist ihr „keine Sekunde mehr fad gewesen.“
Eine logische Folge wäre, besonders Kluge vermehrt mit Projektarbeit zu betrauen. Doch davon rät Birgit Hartel ab. Denn Hochbegabte hätten das Bedürfnis, dass auch alle anderen so schnell denken wie sie. Ein Konfliktpotenzial, was nicht automatisch bedeutet, dass Hochbegabte weniger soziale Fähigkeiten mitbringen, betont Hartel. „Das ist ein Vorurteil, da gibt es sehr viele wissenschaftliche Studien, die sich damit befasst haben“, stellt Hartel klar.
„Intelligenz hilft, auch soziale Situationen besser zu verstehen.“ Nur bei einem kleinen Teil (drei von zehn) käme es zu Auffälligkeiten – wie sonst auch in einer bunten Gesellschaft. Zum Fluch kann eine zu hohe Intelligenz trotzdem werden, weiß Hartel: Wenn die Umwelt die Begabung nicht sehen kann oder will. Wenn es keine speziellen Angebote in der Schule oder in der Ausbildung gibt, man in einem Job landet, wo der Chef nicht sieht, wenn Menschen besonders engagiert sind. „Durch das Internet haben wir jedes Wissen leichter zur Verfügung“, sagt Hartel. „Gleichzeitig ist die Welt voller Nichtwissen und Probleme und ich glaube, dass wir als Gesellschaft sehr gut daran tun, wenn wir die Potenziale schätzen.“
Kommentare