"Wir haben unsere Würde verloren"

Das Internet hat seine Versprechen nicht gehalten: Es hat keine gerechtere Welt geschaffen, sondern die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Es habe Arbeitsplätze vernichtet, unterbinde den Wettbewerb und fördere Intoleranz und Voyeurismus. Es sei kein Ort der Freiheit, sondern ein Überwachungsapparat, dem wir kosten- und bedenkenlos zuarbeiten.
So sieht es der britische Autor Andrew Keen, der in seinem aktuellen Buch ("Das digitale Debakel") eine scharfe, pointierte und provokante Analyse unserer vernetzten Welt abliefert.
Am Mittwoch (23. September) stellt der 55-Jährige Wahl-Kalifornier bei den 22. Österreichischen Medientagen in Wien seine streitbaren Expertisen zur Diskussion.
KURIER: Ihr Buch heißt auf Englisch "Internet ist not the answer". Was war die Frage?
Andrew Keen:Die Frage war: Was soll das Betriebssystem für die vernetzte Welt des 21. Jahrhunderts sein? Die Antwort: ein reformiertes Internet. Eines, das nicht Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, eine Überwachungswirtschaft sowie ein globales Geschäft mit unseren Daten betreibt und fördert. Als Historiker, Soziologe und Kulturkritiker ist es meine Aufgabe, die digitale Revolution kritisch zu beäugen. Meine Mission ist es, zu zeigen, wie das Internet die Welt verändert hat.
Es ist ein sehr düsteres Bild, das Sie in ihren Büchern zeichnen. Was muss sich ändern?
Ich will das Internet per se nicht schlechtreden, denn es bietet einem täglich viele Möglichkeiten und Leistungen. Aber wir brauchen mehr kartellrechtliche Untersuchungen durch die EU- und US-Regierungen. Und wir müssen Gesetze, die unsere Daten schützen, ernsthaft in Erwägung ziehen. Wir brauchen mehr Regulierung in Sachen Privatsphäre – vielleicht sogar ein Gesetz, dass das Internet zum Vergessen zwingt.
Was würden Sie Usern von
Facebook oder anderen Plattformen raten?
Ich würde ihnen raten, damit aufzuhören, sich selbst und ihr Leben auf diesen Plattformen zu vermarkten. Viele sollte sich einmal in einen dunklen Raum setzen und über die eigene Irrelevanz nachdenken.
Es gibt viele Beispiele dafür, wo das Internet eine wichtige Rolle bei politischen Umbrüchen gespielt hat. Welche Macht hat das Internet?
Das Internet spielte eine wesentliche Rolle bei der Beendigung der Diktaturen in Ägypten und Libyen sowie bei der Förderung einer kritischen Haltung gegenüber dem globalen Kapitalismus. Das ist auch gut so. Meine Kritik ist, dass diese Bewegungen nicht ausgereift sind. Die
Occupy-Bewegung hat sich im Sande verlaufen und der "
Arabische Frühling" ist jetzt die "Arabische Katastrophe". Das Internet kann zwar Regierungen zu Fall bringen, aber es liefert keine nachhaltigen Lösungen mit.
Kann Technologie den Mensch verbessern?
Technologischer Fortschritt kann die Menschheit nicht verbessern. Er ist nur ein Spiegelbild, wie wir sind, was wir schon immer waren: egoistisch und dumm.
Sie sagen, dass die Internet-Ökonomie Arbeitsplätze vernichtet. Können Sie Beispiele nennen?
Vor ein paar Jahren hat Facebook
WhatsApp für 20 Milliarden Dollar gekauft.
WhatsApp beschäftigte damals aber nur 55 Personen. Ähnlich war es bei
Instagram, das Facebook um eine Milliarde Dollar kaufte. Damals arbeiteten 15 Menschen für
Instagram. Neue Jobs wurden durch diese Übernahmen keine geschaffen. Das ist das Problem der Internet-Ökonomie. Im Industriezeitalter, als Menschen in Fabriken arbeiteten, wurden sie für Arbeit bezahlt. Heute arbeiten wir gratis in den Datenfabriken. Die Gratisgesellschaft ist eine Katastrophe und wirkt sich auf vielen Ebenen negativ aus – auch auf die Qualität der Zeitungen.
Im Internet findet ein Rennen um die Klicks statt. Was halten Sie vom Klick-Journalismus?
Es ist ein Wettlauf nach unten. Das fördert Ignoranz. Es ist sogar noch schlimmer als Fernsehen.
In Ihrem aktuellen Buch gibt es ein Kapitel über "Ich-Revolution". Was hat diese bewirkt?
Wir leben nun in einer Fantasiewelt und sind umgeben von geschönten Selfies. Wir haben unsere Würde und den Sinn für die Realität verloren. Wir müssen unsere Bedeutungslosigkeit neu erlernen.
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