Als Gringo in Rio: Ein kleiner Leitfaden

Fabiana, ihr Freund Fernando, Gabriela, die Tochter – und Dudu, ein Pudel, dessen Aussehen, Größe und Treue einem Staublurch nicht ganz unähnlich, schauen auf. Lächeln. Das ist er also, der Gringo aus Europa.
Etwas vom Essen, das in seiner Zusammenstellung so überhaupt keinen Wiedererkennungseffekt auslöst, ein Bier vielleicht, oder sonst was? Was unkompliziert begann, sollte auch so enden.
Drei Wochen mit einer Familie in Rio zu leben, bedeutet vieles. Nämlich vieles leicht zu nehmen, die sofortige Mitgliedschaft, Herzlichkeit, endloses Mitteilungsbedürfnis und eine etwas anders ausgelegte Form von Verlässlichkeit. Wichtigste Eigendefinition ist die strikte Unterscheidung: Die des Carioca, also des Einwohners von Rio, mit jenem von Sao Paulo, Paulista genannt. Das müsse sich auch jeder Gringo, per Definition demnach jeder Mensch außerhalb Brasiliens, hinter die Ohren schreiben.
In einem speziell für Gringos herausgegebenen Druckwerk mit dem Titel "Wie wird man zu einem Carioca" ist tatsächlich zu erfahren: Paulista kommen aus dem Staat Sao Paulo, haben eine fahle bis blässliche Gesichtsfarbe und sprechen ein Portugiesisch mit irritierendem Akzent.
Somit gibt es ein paar Erkenntnisse, die aus einem dreiwöchigen Rio-Aufenthalt zu ziehen sind:
Sprache: Der, oder die Paulista spricht hart. Der Carioca hingegen singt, verwendet weiche Laute. "Ein ts ist bei uns ein sch ", versucht Fabiana mit praktischem Beispiel zu erklären. Sinnlos. Ein "R" am Anfang eines Wortes wird grundsätzlich als "H" ausgesprochen. Verwirrend. Ein Tipp: Der Gringo von Welt beschränkt sich zunächst auf hintergründige Einsilbigkeit. "Oi", mit Selbstbewusstsein ausgestoßen, klingt lustig, bedeutet Servus, genügt für die unmittelbare Kontaktaufnahme und darf durchaus auch als Ablenkungsmanöver in der sprachlichen Hoffnungslosigkeit verwendet werden.
Wesen: Der Carioca gilt im direkten Vergleich als faul. Der Paulista als pflichtbewusst und fleißig. Der Carioca hat dafür eine logische Erklärung: Das Meer – und der Atlantik bietet Unmengen davon – vor der eigenen Haustür mache eben lockerer. Mit Havianas (Badeschlapfen) und Shorts zur Arbeit zu gehen, ist ihm nicht fremd.
Gestik: Wichtig ist, in jeder nur erdenklichen, auch noch so verzwickten Lebenssituation den Daumen noch oben zu strecken. Als Zeichen des Danks, der Wertschätzung, der Entschuldigung. Ein Gringo macht das auch freundlich grinsend, sollte er als "letztklassiges Arschloch" beschimpft werden. Erstens, weil er es ohnehin nicht verstanden hat. Zweitens, weil er nichts erwidern kann. Drittens wird sich das verblüffte Gegenüber ob solcher Reaktion möglicherweise "Was für ein Idiot" denken, aber resignierend seinen Daumen heben.
Zeitgefühl: Es ist so eine Sache mit der Zeit, an Orten, wo man eben das Meer vor der eigenen Haustüre hat. Der Blick ins Unendliche macht geduldig. Grundsätzlich wird ein Treffpunkt in "brasilian time" ausgemacht. Was bedeutet, dass wenigstens eine Stunde Verspätung einzukalkulieren ist. Ein Beispiel: Ist ein Treffen für sieben Uhr vereinbart und erscheint der Besucher irrtümlich pünktlich, muss er sich um Punkt sieben die berechtigte Frage gefallen lassen: "Wir haben um sieben gesagt, was machst du schon da?" Fabiana erzählt, ihr Rekord liege bei fünf. Fünfstündiges Warten, bis die Freunde zum Essen aufgetaucht sind. Na gut, dies sei vielleicht ein wenig übertrieben.
Nebenbei sei dem Gringo gesagt, dass die "brasilian time" auf Rios Flughafen Galeão nicht zur Anwendung kommt.
Geldgeschäfte: Grundsatz ist: Misstraue jeder Bank, egal wie gut situiert du bist. Kontakte zählen, für Geldgeschäfte gibt es schließlich mehrere Spezialisten.
Wer es übernimmt, des Gringos Fremdwährungen mit besserem Kurs in brasilianische Reais zu wechseln? Logischerweise die Reisebüros. Schafft es der Gringo, dort sein Anliegen erkennbar vorzutragen, verschwindet der Mann auf der anderen Seite des Schalters hinter einer Tür, um mit einem Geldbündel wiederzukehren. Kursgewinn gegenüber der Bank ist sicher, auch der lästige Papierkram entfällt. Hoch den Daumen.
Ernährung: Grundsätzlich zu loben ist die Köchin, wird dem Gringo eine Feijoada vorgesetzt. Auch dann, sollte sich der gedankliche Daumen im ersten Augenblick nach unten biegen. Das im Bundesstaat Minas Gerais entwickelte Nationalgericht, welches einem echten Carioca heilig ist wie der Christus auf dem Corcovado, besteht laienhaft erklärt aus: gekochten schwarzen Bohnen, getrockneten Körperteilen eines Schweins, die man sonst nicht unbedingt braucht, wie Rippen, Ohren, Knie und Schwanz. Dazu eine in Scheiben geschnittene würzige Wurst, die im richtigen Leben auch einmal ein Schwein gewesen ist. Beigelegt wird natürlich Reis, sowie angeröstetes, mit harten Eiern und Schinken angereichertes Maniokmehl. Optisch kein Leckerbissen, schmeckt die klassische Feijoada nach mehrmaligem Konsum interessant. Ein Cachaça, in purem Zustand getrunken, zumeist Grundsatz jeder Caipirinha, kann hinterher nicht schaden. Die aus Zuckerrohrsaft gewonnene Spirituose ist Brasiliens klare Antwort auf Kerosin und Alkohol. Solch essenziellen Dinge erfährt der wissbegierige Gringo beim Blättern in seinem stets mitzuführenden Carioca-Nachschlagewerk.
Dennoch. Es ist nützt alles nichts. Nach drei Wochen verlässt der Gringo Rio mit dem Wissen: Es bedürfte wohl eines ganzen Lebens, um ein vorbildlicher Carioca zu sein. Daumen nach oben. Für diese Erfahrung, die der Gringo nicht missen möchte.
Noch ein Bier. Zum traurigen Abschied.
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