Ein Grandseigneur wird 100 Jahre alt

Zwei Männer sitzen in einem Wohnzimmer und unterhalten sich.
Der langjährige Generaldirektor der Creditanstalt feiert heuer einen sehr runden Geburtstag. Geistig wie körperlich fit und angriffslustig ist er geblieben.

Ein Wiener Stadtpalais im dritten Bezirk, die Wirtschafterin öffnet, man betritt einen Salon, der aus einer anderen Welt in die unsere herüber gerettet wurde. Der Hausherr erscheint, aufrecht und kerzengerade, ohne Stock, ohne Brille, in feines Tuch gehüllt, natürlich mit Krawatte. Heinrich Treichl nimmt Platz und beginnt zu erzählen. Von einer Zeit, die wir sonst nur aus Geschichtsbüchern kennen. Denn, so unglaublich es klingen mag, der Generaldirektor der Creditanstalt i. R. wird heuer 100 Jahre alt. Und das mit der Würde eines Grandseigneurs wie man sie sonst kaum noch finden wird.

Alte Schule

Ein Mann interviewt einen älteren Mann, der in einem Sessel sitzt.
Dr. Heinrich Treichl, Interview mit 100 jährigem, Sohn Andreas Treichl,
„Danke, dass Sie sich der Mühe unterzogen haben“, begrüßt er uns, wie man eben von einem Herrn der alten Schule begrüßt wird. Kaffee wird serviert, dann schließt die Wirtschafterin die Tür, und ich beginne mit der Frage, wie weit seine Erinnerungen zurückreichen.

„Ich erinnere mich an den pferdebespannten Wagen, in dem Kaiser Franz Joseph an uns vorbeigefahren ist. Unsere Kinderfrau war sehr kaisertreu und hat darauf geachtet, dass wir dem Kaiser zuwinken, und er hat dann tatsächlich mit einer Handbewegung zurück gegrüßt.“

Heinrich Treichl spricht ruhig und unaufgeregt, auch wenn er auf das Ende der Monarchie zu sprechen kommt, „als ich mit dem Instinkt eines Kindes gespürt habe, dass da etwas Wertvolles zugrunde geht. Andererseits hat man auch gespürt, dass sich etwas Neues bildet. Ich will nicht sagen, dass ich der Monarchie nachgetrauert habe, aber es gibt schon ein paar Dinge, deren Verschwinden ich sehr bedaure. Bestimmte Vorstellungen von dem, was sich gehört und was sich nicht gehört, sind seither ins Wanken geraten. Wir leben in einer Welt, in der fast alles erlaubt ist.“

Ringstraßen-Architekt

Der Bankier Dr. Heinrich Treichl hat eine Lebensgeschichte, wie sie nur der alten Donaumonarchie entspringen konnte: Sein Urgroßvater war der berühmte Ringstraßen-Architekt Heinrich von Ferstel, der die Votivkirche erbaute, eine Großmutter hat bei Johannes Brahms Klavierstunden genommen, die andere stammte aus der bekannten Bankiersfamilie Thorsch und war Patientin Sigmund Freuds. Und auch Treichls Vater war Bankier.

Kaum bei seinem Vater angelangt, beweist Heinrich Treichl, dass er neben einem funktionierenden Gedächtnis auch über einen Spürsinn für Humor verfügt: „Als ich einmal zu meinem Vater sagte, dass ich Architekt werden wollte, reagierte er mit den Worten: ,Architekt willst du werden? Da muss man Ideen haben, da muss man Einfälle haben. Was wird dir schon einfallen – deine Häuser!’“

Der stolze Sohn

Alle lachen, auch Sohn Andreas Treichl, der Generaldirektor der Erste Bank, hat sich zu uns gesellt und hört – nicht ohne Stolz, wie es scheint – zu, was sein bald 100-jähriger Vater zu erzählen hat.

Zwei Männer posieren neben einer Büste in einem Raum mit Bücherregal.
Dr. Heinrich Treichl, Interview mit 100 jährigem, Sohn Andreas Treichl,
Heinrich Treichl hat dann doch nicht Architektur, sondern Jus studiert, er wurde Bankier, wie mehrere seiner Vorfahren – und mittlerweile auch seine beiden Söhne.

„Sie haben“, frage ich, „die 1930er-Jahre bewusst erlebt, glauben Sie dass ein wirtschaftlicher Zusammenbruch wie damals je wieder passieren kann?“

„Ja, das glaub ich schon“, meint Heinrich Treichl, der nach wie vor das britische Wirtschaftsblatt The Economist liest. „Auch wenn die Österreicher derzeit um ihr Geld keine Angst haben müssen, sollte man ihnen dennoch empfehlen, etwas Angst zu haben. Vor allem ist es gut, wenn man auf die Menschen in der Politik aufpasst, die mit unserem Geld haushalten.“

Zu viele Aristokraten?

Als er Chef der Creditanstalt war, warf man Treichl vor, allzu viele Aristokraten in die Bank geholt zu haben. „Ja, das hat man mir vorgehalten“, sagt er, „aber ich glaube nicht, dass es stimmt. Manche Leute haben das multipliziert und aus einem Adeligen fünf gemacht. Andererseits fand ich es richtig, auf einen angeborenen Moralkodex zu achten. Das fehlt vielleicht heute da oder dort.“

Dass Treichl aus dem Großbürgertum kommt, sollte ihn eigentlich mit Bruno Kreisky verbunden haben – aber gerade mit ihm hatte er legendäre Konflikte.

Umso überraschender, wie er ihn heute in Erinnerung hat: „Eigentlich sehr positiv. Kreisky war ein Staatsmann, der ein gesellschaftspolitisches Konzept hatte, und es sind ihm nicht nur die verbohrten Bürgerlichen auf die Nerven gegangen, sondern auch die eigenen Leute.“

„Was waren Ihre Konflikte mit ihm?“

„Da ging es um Personen, die ich in die Creditanstalt holen wollte. Da hat er sich halt eingemischt.“

„Parvenü“ Androsch

Heinrich Treichl war immer schon für ein treffliches Bonmot gut, und daran hat sich nichts geändert. Seinen Nachfolger als CA-Chef, Hannes Androsch, hat er einst als „Parvenü“ bezeichnet, allerdings auch seine Intelligenz und sein wirtschaftliches Verständnis hervorgehoben. „Der Kreisky“, meint er jetzt, „war der Herkunft nach ein Bürgerlicher, der Androsch ist erst einer geworden.“

Sah Treichl die Sozialdemokratie früher als „Bedrohung der Freiheit“, so teilt er heute gleich in beide Richtungen aus: „Der Sozialismus ist schon eine Zwangsjacke, bei den Bürgerlichen ist es aber nicht viel besser. Die Figuren, die völlig frei denken, sind selten geworden.“

Heute lieber Grün

Als ich ihn darauf anspreche, dass er die erste schwarz-blaue Regierung begrüßt hatte, gesteht er ein, „dass das nicht gut ging. Ich wollte eine Alternative zur Großen Koalition, aber die Blauen sind – was mich sehr stört – nicht in der Lage, eine Grenze zur Ideologie des Nationalsozialismus zu ziehen. Daher kann es mit ihnen auch nicht gut gehen.“ Mittlerweile gefiele ihm Schwarz-Grün, „die Grünen haben große Talente“.

Was Treichl auch heute, nach so vielen Jahren noch aufregt, ist die Zerschlagung der Creditanstalt, „mit der ein Teil meines Lebenswerks verloren ging“. Gerade er, der Großbürger, war es, der die CA für den „kleinen Mann“ geöffnet hat. „Am Beginn waren die Banken Institutionen für vermögende Leute. Wir mussten sie für den kleinen Mann öffnen, denn die Reichen lassen ihr Geld nicht in der Bank, die lassen es anderswo arbeiten.“

Langes Arbeitsleben

Als CA-„General“ ging er mit 68 Jahren in Pension, danach war er in Aufsichtsräten, und als Präsident des Roten Kreuzes blieb er bis in sein 87. Lebensjahr aktiv. „So lange zu arbeiten, dürfte Ihnen gut getan haben“, vermute ich.

„Ja, wenn man das Arbeit nennen will“, schmunzelt er, „dann stimmt es. In eine Verantwortung eingebunden zu sein, ist sicher gut. Aber ich empfinde mein Alter als Gottesgnade, da spielen auch die Gene mit. Ich kannte noch zwei meiner Urgroßmütter, beide wurden über 90 – eine war die Witwe Heinrich Ferstels. Ich selbst habe in meinem Leben nicht allzu viel Alkohol getrunken und mit 60 zu rauchen aufgehört.“

Die beiden schwersten Schicksalsschläge waren der Tod seines Bruders Wolfgang, der im Widerstand gegen die Nazis in der britischen Armee diente und bei einem Fallschirmabsprung ums Leben kam. Und der Tod seiner Frau Helga vor 18 Jahren, „die ich heute noch frage, ob etwas richtig oder falsch ist, das ich gerade mache. Sie hat mein Leben regiert, und das ist so geblieben.“

Die Schwiegertochter

Eine Frau in einem lila Kleid posiert auf einer roten Treppe.
Im Sommer fährt Heinrich Treichl, wie seit seiner Kindheit, auf den Bauernhof seiner Eltern im Salzburgischen Leogang, dessen Haus zum Teil aus dem 14. Jahrhundert stammt. Und: Den von seiner SchwiegertochterDesirée Treichl-Stürgkhgeleiteten Opernball beobachtet er im Fernsehen. „Früher bin ich selbst hingegangen, weil eine Reihe von Leuten, die für die Bank wichtig waren, das so gewollt hat.“ Der Ball sei eine wertvolle Institution für Bankiers und Geschäftsleute.

Auch auf das Thema Religion kommen wir zu sprechen. Er gehe zwar, wie er gesteht, „nicht mit absoluter Regelmäßigkeit“ in die Kirche, sei aber „in zunehmendem Maße religiös, was ein ganz normaler Prozess ist, wenn der Tod sich nähert. Ansonsten tue ich so, als ob es ihn nicht gäbe. Das ist zwar eine gigantische Selbsttäuschung, die aber sehr praktisch ist.“

„Sie haben einmal gesagt, dass Sie eitel sind. Trifft das immer noch auf Sie zu?“

Heinrich Treichl überlegt nicht lange und sagt nur ein Wort: „Ja.“

Sonst würde er wohl auch nicht in dieser Konstitution mit bald 100 Jahren neben mir sitzen.

Heinrich Treichl Am 31. Juli 1913 in Wien als Sohn des Bankiers Alfred und der Dorothea Treichl geb. Baronin Ferstel zur Welt gekommen. Nach dem Jusstudium als Devisenhändler in Paris und bei der Wiener Merkur-Bank tätig. Im Zweiten Weltkrieg Leutnant der Luftwaffe, danach in amerikanischer Kriegsgefangenschaft.

Creditanstalt Nach dem Krieg im Verlag Ullstein tätig, war er ab 1958 bei der Creditanstalt-

Bankverein (CA): Seit 1962 im Vorstand, von 1970 bis 1981 Generaldirektor. Bis 1999 war Heinrich Treichl Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes.

Privates Treichls Frau Helga, mütterlicherseits aus der Verlegerfamilie Ullstein stammend, starb im Jahr 1995. Heinrich Treichl hat zwei Söhne: Andreas Treichl (60), Generaldirektor der Erste Bank, verheiratet mit der Opernball-Organisatorin Desirée Treichl-Strürgkh, und Michael Treichl (62), der als Investmentbanker in London lebt. Heinrich Treichl hat insgesamt fünf Enkel.

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