Kollers Euphoriebremse: "Sind noch nicht bei EM"
Die Müdigkeit nach einer langen Nacht war Marcel Koller noch anzumerken, als Österreichs Fußball-Teamchef am Montag den 1:0-Sieg über Russland analysierte. Der Schlafentzug ließ sich allerdings leicht verschmerzen - schließlich scheint die Teilnahme an der EM 2016 in Frankreich durch den historischen Erfolg in Moskau nur noch Formsache zu sein.
Schon mit vier Punkten aus den letzten vier Qualifikationsspielen würde die rot-weiß-rote Auswahl den ersten Turnier-Startplatz auf sportlichem Wege seit der WM 1998 realisieren. Sollte das kommende Heimspiel am 5. September gegen Moldau gewonnen werden und gleichzeitig Russland daheim nicht gegen Schweden gewinnen, hätte man schon drei Runden vor Schluss das Frankreich-Ticket fixiert.
Allerdings wies Koller darauf hin, dass die theoretische Möglichkeit des Scheiterns nach wie vor besteht. "Wir sind noch nicht bei der EM", betonte der Schweizer, gab aber auch zu: "Es sieht sehr gut aus und wir sind auf dem richtigen Weg."
Noch nicht top
In der kommenden FIFA-Weltrangliste wird das ÖFB-Team als zehnt-oder elftbestes europäische Nationalmannschaft geführt werden. "Doch ich würde das nicht so hoch ansetzen. Wir sind noch nicht bei den europäischen Top-Teams", betonte Koller.
Bei aller Freude über den Auftritt in Moskau sah Koller auch die eine oder andere Unzulänglichkeit bei seinen Schützlingen, vor allem was die Arbeit in der Defensive betrifft. Der eine oder andere müsse sich "in den Hintern kneifen" und noch mehr für die Unterstützung der Abwehr leisten, mahnte der 54-Jährige.
Außerdem bemängelte Koller die fehlende Effektivität bei der Chancenauswertung. "Wir hätten mehr Ruhe reinbringen und das 2:0 machen müssen. So war es bis zum Schluss hektisch und spannend. Das braucht man auch nicht immer als Trainer."
Starke 1. Hälfte
Zumindest die Schlussphase kostete Koller nicht mehr allzu viele Nerven - seine Mannschaft brachte den Vorsprung im Finish relativ ungefährdet über die Zeit. "Ich habe mich darüber gefreut, dass wir uns in den letzten zehn Minuten nicht eingeigelt, sondern auch weit vorne attackiert haben."
Besonders angetan war Koller von der Darbietung vor dem Seitenwechsel. "Es war für mich vor dem Spiel nicht sicher, ob wir in Russland frech auftreten, doch zumindest in der ersten Hälfte war das so." Der Teamchef lobte seine Kicker dafür, dass sie im letzten Match der Saison und bei hohen Temperaturen noch einmal an ihre Grenzen gegangen waren. "Sich noch einmal so reinzuschmeißen, war fantastisch."
Alaba wird vermisst
Den Erfolg über den WM-2014-Teilnehmer wertete Koller als großen Schritt im Reifeprozess seiner Mannschaft. "Solche Spiele braucht man, um weiter nach vorne zu kommen." Eine ähnliche Bedeutung misst der Schweizer rückblickend dem 2:2 in der WM-Quali im März 2013 in Irland bei, als David Alaba kurz vor Schluss den Ausgleich erzielte. "Da haben die Spieler gemerkt, dass wir nicht nur gut spielen, sondern auch Ergebnisse erzielen können."
Trotz des Fehlens von Alaba wurde Russland in der laufenden EM-Quali zweimal besiegt. Dennoch sehnt Koller die Rückkehr seines Star-Spielers herbei. "Wir hätten es lieber, wenn er immer dabei wäre, aber es ist auch wichtig, dass ich nicht groß herumlamentiere. Wir sind froh, wenn er wieder gesund zurückkommt und die Mannschaft noch stärker macht."
Homogenität
Auch ohne den Bayern-Legionär reichte es am Sonntag zu einem Erfolg, weil Marc Janko mit einem spektakulärem Fallrückzieher zur Stelle war. "Seine Vereinssituation war nicht immer gut, doch wir haben nie an seinen Qualitäten gezweifelt. Er ist immer für wichtige Tore gut", lobte Koller seinen Goalgetter.
Der Nationaltrainer hielt auch in schwierigen Zeiten zu Janko und anderen Kickern, denen phasenweise ebenfalls die Spielpraxis fehlte. Es entstand ein Stamm, der sich durch Qualität und Gemeinschaftsgefühl auszeichnet. "Das aktuelle Team ist sehr stark, homogen und eine verschworene Gemeinschaft", erklärte Koller. "Wir haben einen Ballon geschaffen, in dem sich die Spieler wohlfühlen. Wenn sie bei ihrem Club oder privat Probleme haben, werden die hier weggeschwemmt."
Dennoch handle es sich bei der ÖFB-Auswahl nicht um eine geschlossene Gesellschaft. "Wenn wir das Gefühl haben, ein Spieler ist gut drauf und ist besser als die, die wir bei uns haben, versuchen wir, das auszunützen und ihn zu holen", meinte Koller, schränkte aber auch ein: "Es gibt immer die Möglichkeit, reinzukommen, doch dafür braucht man große Klasse. Ich möchte eine Mannschaft formen, die wir nicht bei jedem Lehrgang ändern müssen. Das hat sich bisher bewährt."
Bleibe gesucht
Der nächste Lehrgang steigt am 30. oder 31. August, wenn Janko und Co. die Vorbereitung auf die Quali-Partien gegen Moldau (5. September in Wien) und Schweden (8. September in Solna) aufnehmen. In diesen Partien könnte der EM-Startplatz geholt werden, doch Koller blickt sich schon vorher um eine mögliche Unterkunft in Frankreich um. "Wir sind dran und versuchen, das Optimum zu finden. Aber es ist jetzt zu früh zu sagen, wo wir sein könnten", erklärte der Nationaltrainer.
Nach dem fünften Auswärtssieg in Folge klangen die Spieler und Trainer glücklich, aber bodenständig. ÖFB-Präsident Leo Windtner ließ sich immerhin heraus locken, "dass wir auf dem Trittbrett des TGV stehen."
Torschütze Marc Janko schoss mit der Nummer 21 sein 21.Tor im Team: "Es war eines der schönsten und wichtigsten. Das ganze Team hat eine tolle Leistung gebracht. Wir haben zwei Mal Russland geschlagen, jetzt müsste schon viel schief laufen, um die Qualifikation noch zu verspielen. Vor einem Jahr hätten wir dieses Spiel nicht gewonnen. Wir haben einen Reifeprozess durchlaufen."
Der Matchwinner ist bei seinem Siegestor laut eigenen Angaben nur knapp einer Verletzung entronnen. "Im ersten Moment hatte ich Befürchtungen, dass ich mir vielleicht das Genick gebrochen habe. Aber dann habe ich meine Körperfunktionen gecheckt, und alles war in Ordnung", schmunzelte der 31-Jährige mit Blick auf die unsanfte Landung nach seinem Fallrückzieher-Tor, das er gar nicht sah. "Ich habe zuerst nicht einmal gewusst, ob der Ball drin ist oder nicht. Erst als die Spieler auf mich raufgesprungen sind, habe ich es gemerkt."
Die Mitspieler zeigten sich von Jankos Flugshow begeistert. "Sladi (Anm.: Junuzovic) hat es vorher schon probiert, aber Marc hat gezeigt, wie es richtig geht mit seiner Filigran-Figur. Er hat schon viele wichtige Tore für uns gemacht und hilft uns unglaublich", sagte Martin Harnik. Großes Lob gab es auch von Kapitän Christian Fuchs: "Er ist da, wenn man ihn braucht, und er ist trotz seiner Größe sehr gelenkig."
Starker Rückhalt
Abwehrchef Aleksandar Dragovic dachte auch an den souveränen Tormann Almer: "Wir waren in der zweiten Hälfte unter Dauerdruck. Da hat Robert überragend gehalten."
Almer selbst war stolz: "Ich versuche, wenn es sein muss, da zu sein, das hat heute gut geklappt. Es ist eine schöne Statistik, vier Pflichtspiele ohne Gegentor in Folge zu sein. Aber wir haben ein größeres Ziel. Ob wir zu Null spielen ist nicht entscheidend, wichtig ist, dass wir uns qualifizieren."
Starkes Kollektiv
Julian Baumgartlinger hob das Kollektiv hervor: "Man sieht was möglich ist, wenn alle zusammenhalten. Die Qualifikation war bisher fast optimal. Es war ein Riesen-Riesen-Schritt von uns." Ähnlich sieht es Zlatko Junuzovic: "Wir haben mit unserem Auftreten Klasse gezeigt." Kurz kam ihm das Spiel in Schweden aus der WM-Quali in Erinnerung. "Damals haben wir nach einer tollen ersten Hälfte noch verloren. Heute nicht."
Für Russlands Teamchef Fabio Capello sei es "kein Zufall", dass Österreich Tabellenführer ist. "Leider sind unsere Spieler nicht an so ein Tempo gewöhnt. In der russischen Liga wird langsamer gespielt, auf europäischem Niveau geht es anders zu", ließ der Italiener aufhorchen. Zurücktreten will der Starcoach trotz acht Punkten Rückstand auf die Österreicher nicht. "Ich habe einen Vertrag." Sprach’s und ging.
Kommersant: "Die russische Nationalmannschaft machte im Qualifikationsturnier für die Europameisterschaft im Jahr 2016 ein weiteres schlechtes Spiel unter der Führung des italienischen Trainers Fabio Capello und war in einer kritischen Situation. Sie verlor zu Hause gegen den Tabellenführer der Gruppe G, die Österreicher, mit dem gleichen Ergebnis - 0:1, das sie im letzten Herbst erzielte, und gefährdet damit die Chance auf den zweiten Gruppenplatz."
Gaseta.ru: "Die Niederlage in Moskau gefährdet für das Team Capello die Teilnahme an der EM 2016. (...) Wir müssen weiterhin die russische Mannschaft anfeuern, auch wenn wir die Kraft finden, dies zu tun, wird es jedes Mal schwieriger. Aber wir müssen uns daran gewöhnen, oder nicht?"
RIA Novosti: "Russland verlor gegen Österreich in der EM-Qualifikation: Ist es Zeit, dass Capello geht? (...) Sportminister Witali Mutko wies wiederum darauf hin, dass jetzt die Zeit für die Analyse und Entscheidungsfindung ist. 'Ich bin bereit, die Zukunft des Teams zu diskutieren, geben Sie uns ein paar Tage, wir werden entscheiden', sagte Mutko Reportern. (...) 'Wird Capello entlassen? Ich weiß es nicht, wir werden es besprechen', sagte Nikita Simonyan, Interimspräsident von Russlands Fußballverband, der Agentur R-Sport."
Österreich spielt mit im Konzert der Großen. Rechnung hin, Rechnung her – Österreich wird die erste erfolgreiche EM-Qualifikation schaffen. Das Nationalteam ist reif genug, um die Pflichtaufgaben gegen Liechtenstein und Moldawien zu erledigen. Und mit so viel Geschick und etwas Glück wie in Moskau wird es auch noch den einen oder anderen Punkt in Schweden und Montenegro geben.
Auch Island, Wales und die Slowakei sind auf einem guten Weg in Richtung Frankreich. Auch dort wird gute Arbeit geleistet, auch dort ist man hungrig nach der Teilnahme an einem Großereignis.
Diesen Hunger zeigen derzeit die Österreicher. Da gibt es eine Restgeneration aus der Zeit der Heim-EM. Und da gibt es eine jüngere Generation an Spielern, die talentierter sind als manche Mitglieder des damaligen Aufgebots. Und vor allem gibt es einen Trainer, der ein klares System vorgibt, eine klare Linie hat. Somit fällt es auch nicht wirklich ins Gewicht, wenn einer der Talentiertesten schon die zweite Partie gegen Russland verpasst hat. Auch ohne David Alaba zeigt das Team derzeit Klasse.
So wie Österreich in der ersten Halbzeit Russland dominiert hat, war Klasse. Dass der WM-Starter nach der Pause alles versuchte, um im heimischen Stadion die Fans zu versöhnen, war zu erwarten. Da sind die Österreicher auch ins Schwimmen gekommen, aber sie haben in den letzten Jahren die Qualität bekommen, auch in heiklen Phasen das Glück zu zwingen.
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