"Scheinheiligkeit": Wehr-Experte fordert Debatte über Neutralität

KURIER: Herr Feichtinger, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat dieser Tage davon gesprochen, dass wir in ein unsicheres Zeitalter eintreten. Was hat sich da verschoben? Die Menschen haben das Gefühl, dass die Sicherheitsordnung, die Weltordnung aus den Fugen geraten ist.
Walter Feichtinger: Diesen großen Blick braucht man einfach. Für mich ist die Weltordnung nicht im Umbau, sondern im Umbruch, weil ich sehe keinen neuen Plan dahinter. Was sind die wesentlichen Elemente? Da ist natürlich die USA mit ihrer neu definierten, eigenen Rolle. Das Zweite ist die Konkurrenz zwischen China und den USA. Und der dritte Bereich ist die Unzufriedenheit mit dem Westen und den internationalen Organisationen, Stichwort "Globaler Süden". Da spürt man, dass der Westen enorm unter Druck gerät, weil viele mit dieser Situation nicht zufrieden sind. Und wenn sich eine Weltlage dramatisch verändert, kommt es oft zu bewaffneten Konflikten. Das sehen wir jetzt.
Man kann sich auf alte Denkmuster nicht mehr verlassen. Dass die USA im Sicherheitsrat mit Russland und China stimmen und die Europäer auf der anderen Seite stehen, wenn es um die Ukraine geht, hat sich auch niemand vorstellen können.
Das ist vor allem das, was uns jetzt in Europa besonders weh tut und große Sorge bereitet. Amerika war eigentlich unser Sicherheitsanker. Wir haben immer geglaubt, dass der amerikanische Sicherheitsschirm über Europa schwebt. Das hat sich jetzt binnen weniger Tage durch Präsident Trump total verdreht. Wir Europäer müssen uns nun fragen, warum das so ist. Geht es Trump darum, auf geopolitischer Ebene Russland aus den Fängen Chinas zu befreien? Geht es darum, den Europäern einmal zu zeigen, wie schwach sie sind, um sie für künftige Verhandlungen gefügig zu machen? Das ist für mich ein wenig in Schwebe. Aber eines ist schon klar: Europa ist nicht mehr ein Schwerpunkt der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Hat das alles nur mit Donald Trump zu tun? Oder hat sich ganz Amerika verändert?
Wir müssen unterscheiden zwischen den Eliten und der breiten Gesellschaft. Die wird sicherlich noch länger Trump applaudieren. Die anderen, die es genauer betrachten, die werden schon ein wenig Magenschmerzen bekommen. Aber insgesamt sehen wir, dass sich die Position weltweit und auch gegenüber Europa in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Es wurde immer wieder betont, dass Europa selbst für seine Sicherheit aufkommen muss. Die amerikanische Unterstützung wurde dennoch nie in Frage gestellt. Mit ihm ist dazugekommen, dass Europa klar gemacht wird, dass es sich um seine Angelegenheiten selbst kümmern soll.
Eklat im Weißen Haus: "Das war eine Schande"
Was haben Sie sich persönlich gedacht, als es vor ungefähr einer Woche zum Eklat zwischen Donald Trump, seinem Vize JD Vance und dem ukrainischen Präsidenten Selenskij gekommen ist?
Das war eine einzige Schande, in jeder Hinsicht. So etwas macht man nicht, jemanden weltweit bloßzustellen vor laufenden Kameras. Das war völlig inakzeptabel.

Eines dürfte es schon bewirkt haben: Dass Europa aufgewacht ist und jetzt seine Verteidigung in Angriff nimmt. Was ja diese Woche auf dem EU-Gipfel besprochen worden ist.
Das Erwachen hat 2014 mit der Annexion der Krim begonnen, würde ich sagen. Dann sind wir aber wieder in einen Dämmerschlaf verfallen.
Damals hat man noch geglaubt, mit Diplomatie solche Konflikte lösen zu können.
Da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Man dachte, mit Russland sei es ohnehin nicht so schlimm und vor allem werden uns die Amerikaner beistehen. Jetzt wissen wir, das beides nicht mehr stimmt. Jetzt ist wirklich fast jedem klar geworden, dass wir etwas tun müssen. Ich sehe das nicht nur negativ, weil es ist höchst an der Zeit, dass sich Europa seiner Rolle besinnt. Man hört etwa sehr oft aus dem asiatischen Raum, dass wir ja nur ein Anhängsel und Mitläufer der USA sind.
Ein entscheidender Punkt ist die NATO, der militärische Pakt zwischen den USA und Europa. Ist die momentan in Auflösung begriffen?
Nein, nein, nein, das sehe ich nicht so. Wenn man über die transatlantischen Beziehungen und die Zusammenarbeit von Europa und der USA spricht, denkt man zwangsläufig an die NATO. Das ist die Institution, wo das über viele Jahrzehnte gelebt wurde. Dass das von Trump infrage gestellt wird, heißt für mich nicht, dass die NATO keinen Bestand mehr hat. Was sich entwickeln kann, ist eine neue Arbeitsaufteilung in der NATO. Ich erwarte eine Stärkung des europäischen Arms in der NATO, der sich auf die Kernaufgaben Landes- und Bündnisverteidigung konzentriert, und der eine Kooperation mit den USA aufrechterhält. Das ist sehr wichtig, vor allem im strategischen Bereich, wie zum Beispiel der Aufklärung.
Zum ausführlichen KURIER TV-Interview mit Sicherheitsexperte Walter Feichtinger
Keine Freude mit einer EU-Armee
Wenn sich die NATO schon neu aufstellt, dann könnte doch gleich eine EU-Armee geschaffen werden.
Davon bin ich kein großer Anhänger. Warum sollen die NATO-Länder jetzt plötzlich alles in die EU stecken? In der NATO gibt es Strukturen, gibt es Kommandos, gibt es große Erfahrung. Ich sehe vielmehr den Weg, dass hier eine viel stärkere Verschmelzung zwischen EU und NATO erfolgt. Wenn man sich darauf einigt, dass die militärische Verteidigung im Rahmen einer neu aufgestellten NATO in Europa erfolgt, dann macht das wirklich Sinn. Vieles andere kann im Rahmen der EU erfolgen. Aber dieses gegenseitige Ausspielen von NATO und EU halte ich für völlig irreführend und falsch.
Auf jeden Fall werden in der EU jetzt Milliarden investiert, um militärisch aufzurüsten. Aber hat Europa dafür überhaupt die Rüstungsindustrie? In den vergangenen Jahrzehnten hat dieser Industriezweig ein eher negatives Image gehabt.
Wir haben 30 Jahre eine unglaubliche Friedensphase erlebt, in der wir irgendwie vergessen haben, dass es diese Art von Krieg noch gibt, vor allem, dass es Staatenlenker gibt, die bereit sind, Krieg als Mittel der Politik einzusetzen. Das haben wir verdrängt und jetzt wurden wir brutal aufgeweckt. In der Zwischenzeit sind aber nicht nur die Armeen und die Verteidigungsbudgets geschrumpft, sondern auch die Rüstungsindustrie wurde stark heruntergefahren oder ausgelagert. 60 Prozent der Beschaffungen erfolgen in den USA. Das heißt, dass Aufrüsten ein riesiges Geschäft für die USA und wenig Wertschöpfung für Europa bedeutet. Eigentlich gar keine. Deswegen wird die Rüstungsindustrie in Europa wieder stark wachsen müssen. Dafür braucht es eine 10- bis 15-jährige Planungssicherheit, das ist vollkommen klar.
Was wird Ihrer Meinung nach in und mit der Ukraine passieren?
Wir sehen, dass Russland hier noch immer versucht, mit einem unglaublichen Einsatz von Soldaten und Material, Boden zu gewinnen. Das gelingt zum Teil, aber bei Weitem nicht in dem Ausmaß, in Russland es sich wünschen würde. Wir sprechen heute von 20 bis 22 Prozent des ukrainischen Territoriums, das Russland zu einem unglaublichen Blutzoll erobern konnte. Rein militärisch ist Russland sicherlich nicht in der Lage, die gesamte Ukraine zu erobern. Und die Ukraine ist nicht in der Lage, die Gebiete, die sie verloren hat, zurückzuerobern.
Was ist erwartbar, wenn es zu Friedensgesprächen kommt?
Dass man an der aktuellen Frontlinie – das sind über 1.000 Kilometer – stehen bleibt und hier einmal eine Feuerpause erwirkt. Erst in weiteren Gesprächen wird man sehen, welche weiteren Schritte möglich sind. Das ist der militärische Faktor. Dann folgt das Politische, falls es überhaupt zu substantiellen Gesprächen kommt. Da ist entscheidend, ob und welche Unterstützung die USA der Ukraine gibt.
Aus Paris war zuletzt die Warnung zu hören, dass sich Putin mit der Ukraine nicht zufriedengibt und sich auch andere Territorien einverleiben will? Ist das übertrieben?
Diese Befürchtung ist sicherlich nicht unbegründet. Putin wird generell so eingeschätzt, dass er so weit geht, wie man ihn gehen lässt. Aber stellen wir uns vor, die USA schwenken wirklich auf auf die russische Seite. Die Ukraine wird fallengelassen, Europa wird fallengelassen und es kommt zu einem Zwangsfrieden. Was macht Putin dann mit seinen Truppen? Hier gibt es die Befürchtung, dass er, wenn der Schutzschirm, wenn die Sicherheitsgarantie der USA nicht vorhanden ist, sehr wohl probiert, ein wenig in den baltischen Staaten oder in Moldawien – Stichwort Transistrien – aktiv wird. Einfach um zu testen, wie die NATO reagiert, wie die Amerikaner reagieren.

Längerer Grundwehrdienst gefordert
Kommen wir nach Österreich. Wie ist das Bundesheer hier aufgestellt? Zumindest ist die Aufrüstung nicht einem Sparstift zum Opfer gefallen.
Das war ein ganz entscheidender Punkt. Es scheint derzeit so zu sein, dass hier Kontinuität vorhanden ist, dass alles hält, was mit dem Plan 2032 und mit einem Finanzierungsgesetz aufgesetzt worden ist. Somit kann man auf eine Perspektive von acht Jahren ganz gezielt planen und einkaufen. Das ist auch dringend notwendig, weil das Heer einen großen Nachholbedarf hat.
Eine Diskussion ist auch, ob der Wehrdienst verlängert werden soll. Geht man nach Militärstrategen, so reichen die derzeitigen sechs Monate nicht aus.
Diese Diskussion ist zu führen. Der Wehrdienst soll verlängert werden, damit die Soldaten dann wieder Truppenübungen machen können. Es geht darum, dass man im Ernstfall auf diese Personen zurückgreifen kann. Mir ist klar, dass Bundesministerin Klaudia Tanner keine Freundin davon ist, aber man muss es debattieren. Ich halte es jedenfalls für unverzichtbar, diese Übungen wieder einzuführen. Damit muss man natürlich auch über die Dauer des Zivildienstes reden. Mein Wunsch wäre ja, dass man über eine Form der allgemeinen Dienstpflicht redet. Das würde der Gesellschaft insgesamt guttun.
Also ein verpflichtender Dienst für Männer und Frauen?
Für Männer und Frauen. Das wäre auch sehr gut für unser Sozialsystem, für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, für das gegenseitige Verständnis.
Debatte über Neutralität notwendig
Reden wir noch über die österreichische Neutralität. Politisch ist sie fest verankert. Sie haben aber einer Gruppe angehört, die verlangt hat, dass über die Beibehaltung diskutiert wird.
Ich bin wirklich ein Verfechter davon, dass man über die Zweckmäßigkeit der Neutralität redet, weil wir diese mittlerweile zu einer Religion verklärt haben. Da kann man daran glauben oder nicht. Viele glauben daran. Ich glaube, es ist ein bisschen Scheinheiligkeit dabei. Es geht doch darum: Funktioniert die Neutralität? Liefert sie das, was wir brauchen? Ist sie als sicherheitspolitisches Konzept zu sehen oder greift das zu kurz? Die Neutralität hat über viele Jahre hinweg Österreich gute Dienste geleistet. Und es war lange Zeit keine Situation, wo wir ernsthaft über sie diskutieren hätten müssen. Aber spätestens seit 2022, seit dem Angriff Russlands, ist es unverzichtbar, darüber zu reden. Wir denken ja auch erstmals ernsthaft über eine gesamteuropäische Verteidigung nach. Da stellt sich daher die Frage, wo Österreich steht. Sind wir eine Insel der Unberührbaren? Das glaube ich nicht in der heutigen Zeit. Vielmehr sollten wir in allen Bereichen zu Europa gehören.
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