Nirgendwo ist man EU-kritischer als in Österreich.
Das kommt auf die Fragestellung an. Bei der Antwort auf die Frage, ob die Österreicher aus der EU austreten wollen, hat sich seit 30 Jahren nichts an der grundpositiven Einstellung geändert: 65 bis 70 Prozent wollen bleiben. Im Übrigen ist es ja nicht falsch, politische Entwicklungen auf Basis vollständiger Informationen zu kritisieren. Das gehört zur Demokratie dazu.
An der Entscheidung, mit der Ukraine EU-Beitrittsverhandlungen zu beginnen, gibt es Kritik. Sie galt vor dem Krieg als eines der korruptesten Länder Europas.
Eine EU-Mitgliedschaft mit all ihren strengen Voraussetzungen ist eine der besten Garantien gegen Korruption. Die Aussicht darauf hat jetzt in der Ukraine – trotz des Krieges – einen beeindruckenden Reformprozess in Gang gesetzt.
Muss man jetzt nicht auch die Verfahren der Balkanstaaten beschleunigen, damit sich diese nicht China oder Russland zuwenden?
Nicht alle am Westbalkan haben den Reformprozess in den letzten Jahren so weitergeführt, wie es notwendig gewesen wäre. In einigen Staaten, etwa in Serbien, gab es deutliche Rückschritte. Die Ukraine zieht jetzt den Zug aller Beitrittswilligen. Dadurch gibt es eine neue Dynamik. Österreich kann da als Brückenbauer eine Rolle spielen.
Österreich ist ja längst nicht mehr West-Ost-Drehscheibe.
Wien ist sehr wohl ein spannender Treffpunkt für viele Politiker und Experten vom Westbalkan und aus ganz Mittel- und Osteuropa.
Sollte die Ukraine nicht auf einige Gebiete verzichten, damit der Krieg endlich endet?
Ich bin sehr froh, dass im Zweiten Weltkrieg niemand verlangt hat, dass Frankreich Teile seines Staatsgebiets an Adolf Hitler abtreten sollte, damit endlich Frieden herrscht. Der Respekt vor der territorialen Integrität der Länder Europas ist Grundlage unserer Friedens- und Sicherheitsordnung. Die Perspektive ist besser, als es uns die russische Propaganda glauben machen will. Es ist doch ein bemerkenswertes Zeichen von Schwäche, dass Putin derzeit im TV so viel Werbung für sich macht. Der Verlust von 87 Prozent der in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten hat eben auch in Russland Konsequenzen.
Ungarn hat der EU seine Zustimmung zum Ukraine-Paket abgepresst. Nun sind die EU-Gelder für Ungarn nicht mehr eingefroren.
Das weise ich von uns. Der EU-Rat hat Ungarn im Dezember 2022 klare Bedingungen gesetzt, davon hat es jetzt vier durch die Verabschiedung von wichtigen ungarischen Gesetzen erfüllt. Deshalb wurden von 30 Milliarden Euro, die der EU-Rat eingefroren hatte, nun 10 Mrd. Euro wieder aufgetaut.
Die gescheiterte Migrationspolitik sorgt für den größten Frust in der EU und führt zu einem Rechtsruck.
Es wird immer das Bestreben geben, in die sicheren, schönen und reichen Regionen der Welt zu gelangen. Es gibt nicht die eine Lösung. Es gehören ein vernünftiger Außengrenzschutz, beschleunigte Verfahren und die ganz schwierige Frage der Rückführungen dazu. Die liegen unter 30 Prozent in fast allen EU-Staaten. Da müssen wir alle deutlich besser werden. Dass sich EU-Parlament und EU-Mitgliedstaaten nun auf das Asyl- und Migrationspaket geeinigt haben, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Ist China in Afrika nicht letztlich erfolgreicher als die EU?
China hat einige spektakuläre Investitionen getätigt und propagandistisch vermarktet, aber die EU ist ein viel stärkerer und nachhaltigerer Investor. Afrikanische Staaten haben mit China schlechte Erfahrungen gemacht, weil meist nur chinesische Arbeiter eingesetzt wurden und viele Staaten am Ende überschuldet und von China abhängig wurden.
Kritik gibt es am Green Deal, der vielen illusorisch erscheint. Sind wir Europäer nicht die Veganer in einer Welt der Fleischfresser?
Wir wollen bis 2050 klimaneutral werden, dieses Ziel wurde gerade sogar von den Petrostaaten bei der Weltklimakonferenz in Dubai bestätigt. Österreich will das Ziel aus eigenem Bestreben schon 2040 erreichen. Wir halten den Green Deal für ein Wirtschafts- und Wachstumsprogramm, weil wir Europäer „First Mover“ bei Photovoltaik, Windenergie und neuen Umwelttechnologien sein wollen. Die Voestalpine zum Beispiel ist im Bereich grüner Wasserstoff weltweit vorbildlich. Fronius bei Wels ist sogar einer der Weltmarktführer in der Herstellung von Wechselrichtern – das ist gewissermaßen das Gehirn hinter Photovoltaikanlagen.
Allerdings zahlen heimische Betriebe dreimal so hohe Energiekosten wie in den USA.
Ja, weil sich viele Staaten zu abhängig gemacht haben von russischem Gas. Bemerkenswert finde ich, dass jeder, der in Österreich lebt, letzten Herbst 500 Euro vom Staat für die Energiekosten bekommen hat: das größte und schnellste Unterstützungsprogramm für Privathaushalte in der gesamten EU. Das würde zum Beispiel Deutschland nie so schnell schaffen, weil Österreich viel weiter ist bei seiner digitalen Verwaltung.
Was finden Sie noch gut?
Das Klimaticket ist eine tolle Sache. Österreich ist zudem in der Biolandwirtschaft führend und außerdem eines der Länder, die am meisten in Forschung investieren. Schauen Sie sich die Weltraumforschung in Graz oder die Quantenphysik in Innsbruck an. Oder besuchen Sie Infineon in Villach, einen der größten Halbleiterhersteller Europas: Dort hat sich rundherum ein kleines Kärntner Silicon Valley gebildet! Ausruhen sollte man sich auf diesen Erfolgen natürlich nicht.
Sie waren Kabinettschef bei Jean-Claude Juncker, danach Generalsekretär der Kommission. 2019 wurden Sie ins kleine Wien versetzt – kein Aufstieg. Hat man in Brüssel Angst vor Ihrer spitzen Zunge?
Ich kenne niemanden, der in Brüssel Angst vor mir hat. Aber ich freue mich sehr, dass ich nach 15 Jahren, in denen ich im Maschinenraum der EU-Kommission Tag und Nacht gearbeitet habe, nun in einem schönen, interessanten Land wie Österreich für Europa arbeiten darf. Langweilig ist mir dabei nie geworden.
FAKTEN:
Wohlstand
Österreich ist in der EU nach Luxemburg am wohlhabendsten
Forschung
Platz 3 bei Forschung & Entwicklung
Gesundheit
Österreich zählt zu den EU-Ländern mit den höchsten Gesundheitsausgaben und hat die zweithöchste Arztdichte
Verkehr
EU-weit höchster Anteil an Schienenverkehr am Personenverkehr
Energie
Spitzenreiter bei der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen
Landwirtschaft
Ein Viertel wird biologisch bewirtschaftet: Spitze!
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