Wege aus der Pflege-Misere: "Mehrheit will zu Hause betreut werden"
Es war ein Ereignis mit einem gewissen Symbolwert: Erstmals stieg heuer in Österreich die Zahl der Pflegegeld-Bezieher auf über eine halbe Million. Und das ist erst der Anfang: „Verglichen mit dem Anstieg, den wir schon ab 2027 erwarten, befinden wir uns noch in einer moderaten Wachstumsphase“, verweist Wifo-Ökonomin Ulrike Famira-Mühlberger auf eigene Berechnungen. Ab 2042 sollte es dann, den Babyboomern geschuldet, zu einem noch kräftigeren Anstieg der Zahl der pflegebedürftigen Menschen kommen. Erst nach 2080 sei mit einem größeren Rückgang zu rechnen.
Famira-Mühlberger war eine der Expertinnen bei der aktuellen Ausgabe der Pflege-Gespräche des Gemeindebunds. Dort verfolgt man die demografische Entwicklung mit besonderer Aufmerksamkeit, würden doch die damit verbundenen Herausforderungen auf der kommunalen Ebene besonders stark aufschlagen, wie Präsident Johannes Pressl betont.
Einzelne Länder reagieren darauf völlig unterschiedlich. Die Schweiz hat zuletzt massiv in den Bau von Pflegewohnheimen investiert. Dänemark geht den entgegengesetzten Weg und setzt vor allem auf die Heimpflege.
Für Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerks, wäre Letzteres auch für Österreich der bessere Ansatz. „Die Mehrheit der Menschen will zu Hause betreut werden, was auch volkswirtschaftlich vernünftig ist.“ Umso wichtiger sei es, vor allem den pflegenden Angehörigen unter die Arme zu greifen.
Informelle Pflege
Deren Engagement wird zur sogenannten „informellen Pflege“ gezählt, deren Bedeutung in den vergangenen Jahren zugenommen hat, wie der Gerontologe Franz Kolland für Niederösterreich erhoben hat. Ein für ihn überraschender Befund, wäre doch angesichts der steigenden Frauenerwerbstätigkeit mit der gegenteiligen Entwicklung zu rechnen gewesen.
Geht es nach ihm, müsse gleich in eine Reihe von Bereichen investiert werden – vom betreuten Wohnen über die Tagesbetreuung bis hin zu den Community Nurses, die es bis dato in Österreich erst in sehr beschränktem Ausmaß gibt.
Es sei jedenfalls noch viel Luft nach oben, betont Christoph Gleirscher, Geschäftsführer von Hilfswerk Niederösterreich. „Wir fördern nicht nur nicht das Notwendige, sondern verschwenden Ressourcen und verhindern konstruktives Zusammenspiel der vorhandenen Systeme. Wir steuern mit falschen Kennzahlen und setzen die falschen Anreize.“ Seine Conclusio: „Würde alles im Umfeld reibungslos funktionieren, könnten wir mit bestehendem Personal 15 bis 20 Prozent mehr Menschen pflegen und betreuen.“
Digitalisierung
Für eine gewisse Entlastung kann auch die Digitalisierung der Pflege sorgen, wie Robert Ritter-Kalisch, Geschäftsführer der Seniorenzentren Linz, aus der Praxis schildert.
Im „digitalen“ Seniorenzentrum Liebigstraße setze man etwa auf das System Livy Care, um rasch etwa auf Stürze, aber auch Blutzucker-Veränderungen aufmerksam zu werden. Visiten der externen Ärzte erfolgen nach Möglichkeit telemedizinisch. Mit Erfolg: „Die Fahrten ins Spital konnten um 40 Prozent reduziert werden.“
Kommentare