Benachteiligte Viertel
Eigentlich steht Schwimmunterricht in französischen Grundschulen auf dem Lehrplan, doch mangels einer Badeanstalt konnte das in Pierrefitte-sur-Seine bislang nicht umgesetzt werden.
Den Wandel brachte Olympia. Die Organisatoren der Sommerspiele 2024 in Paris setzten darauf, dass mehrere Wettkampfstätten wie das Stade de France und ein neu gebautes Olympisches Wassersportzentrum, aber auch das Olympische Dorf in den nördlichen Vororten im Departement Seine-Saint-Denis liegen.
Es ist in vielerlei Hinsicht sozial benachteiligt: Hier gibt es vergleichsweise weniger Krankenhäuser, Freizeitangebote – und Bäder. Das Departement zählt mehr als doppelt so viele Nichtschwimmer unter Jugendlichen als der Rest Frankreichs.
„Als Paris 2017 die Ausrichtung der Spiele gewann, war klar, dass wir sie mit Aktionen vor Ort vorbereiten müssen, damit eine Dynamik entsteht“, betont Hervé Borie, sozialistischer Stadtrat und Vize-Präsident des Gemeindeverbandes Plaine Commune. „Es war absurd, dass hier das Olympische Wassersportzentrum entstehen sollte, während mehr als die Hälfte der Kinder nicht schwimmen konnten.“
Gratis-Angebote
Seitdem wurden mehrere Bäder renoviert oder neu gebaut, einige Gemeinden stellten im Sommer mobile Schwimmbecken auf. Außerdem läuft in Seine-Saint-Denis und in Marseille unter anderem mit Geldern aus einem Olympia-Fonds das Schwimmlern-Programm „1, 2, 3 Nagez!“, übersetzt: „1, 2, 3 schwimmt los!“
Tausende nutzten seitdem das Gratis-Angebot. Das Erbe der Spiele, das sie ihrem Austragungsort und dessen Bewohnern hinterlassen, ist für das Internationale Olympische Komitee (IOC) ein wichtiges Thema.
Bei der Organisation wurde ein eigener Stab eingerichtet, ein spezieller Fonds aufgelegt. Es ging auch darum, die Akzeptanz der sportlichen Großveranstaltung in der Bevölkerung zu sichern.
Tania Bragia, als Head of Legacy verantwortlich für den Nachlass der Spiele beim IOC, verweist darauf, dass Sport mehr Platz in der französischen Gesellschaft bekommen habe.
„Zum Beispiel gilt die Regel, dass alle Schulklassen ab der Grundschule täglich mindestens eine halbe Stunde Sport treiben.“ Es wurden mehr Sportgeräte im öffentlichen Raum aufgestellt und neue Karriere-, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vor allem in den Vorstädten von Paris geschaffen.
Schwimmen in der Seine
„Bei mehr als 80 Prozent der Zulieferer bei den Spielen handelte es sich um kleine oder mittlere Unternehmen, meist aus der Region“, so Bragia. Fast ein Jahr später zeigt sich, dass zum einen die Metropole selbst in mehrfacher Hinsicht profitiert hat, etwa in Form des Ausbaus seines Verkehrsnetzes, Renovierungsarbeiten oder auch neuer Bademöglichkeiten in der Seine und der Marne, die für 1,4 Mrd. Euro einer umfassenden Reinigungsaktion unterzogen wurde.
Aber auch der Norden von Paris erfuhr spürbare Veränderungen. Bragia spricht von einem „Beschleunigungs-Effekt für den Ausbau von Infrastrukturen“: Die automatisierte Metro-Linie 14 bis Saint-Denis wurde schnell fertiggestellt, zwei neue Brücken verbinden mehrere Städte miteinander. „Und wenn das Olympische Dorf ab September als neues Viertel öffnet, entsteht eine neue Dynamik vor Ort“, verspricht die IOC-Funktionärin.
Sozialwohnungen
Die ehemaligen Unterkünfte der Olympia-Teilnehmer werden zu Wohnungen für 6.000 Menschen, ein Drittel davon Sozialwohnungen, umgebaut, es wird Geschäfte, eine Kinderkrippe, Restaurants und Büros geben. Hervé Borie: „30 Jahre lang war Seine-Saint-Denis das größte Industriegebiet Europas, doch im Zuge der Deindustrialisierung ab den 1970er-Jahren schlossen Fabriken, das Image von Seine-Saint-Denis verschlechterte sich zunehmend.“
Zwar haben inzwischen viele Unternehmen hier ihren Firmensitz, doch die Vorurteile halten sich hartnäckig, beklagt der Lokalpolitiker. „Was hat man vor den Spielen nicht alles gehört: Horden Wilder aus Seine-Saint-Denis würden die Touristen angreifen und ausrauben! Und was ist passiert? Alles lief in bester Stimmung ab.“
In großen Fan-Zonen fieberten die Menschen vor Leinwänden mit. Für das Selbstbewusstsein der Bewohner, so Borie, war es wichtig, dass vor ihrer Haustür ein historisches Ereignis stattfand und sie mitten drinnen waren.
Kommentare